Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



hast du kleiner nordischer Welttheil, einst
Abgrund von Hainen und Eisinseln, auf dem
Balle werden müssen! -- was wirst du noch
werden!
--

Die sogenannte Aufklärung und Bildung
der Welt hat nur einen schmalen Streif des
Erdballs berührt und gehalten: auch kön-
nen wir nicht etwas in ihrem Laufe, Stande
und Umlaufe ändern, ohne daß sich zugleich
alles ändert. Wie? wenn z. E. allein die
Einführung der Wissenschaften, der Reli-
gion,
der Reformation anders gewesen wä-
re? -- sich die nordischen Völker anders ge-
mischt, anders gefolgt wären? nicht das
Pabstthum so lange Vehikulum seyn müs-
sen? -- was könnt ich nicht noch zehnfach
mehr fragen? -- Träume! Es war nicht:
und hinten nach können wir immer etwas
durchblicken, warum es nicht war? Freylich
aber ein kleines Etwas!

Auch sieht man, warum eigentlich keine Na-
tion hinter der andern, selbst mit allem Zu-
behör
derselben jemals worden ist, was die
andre war? Mochten alle Mittel ihrer Kul-
tur
dieselbe seyn: Kultur nimmer dieselbe,

weil
K 4



haſt du kleiner nordiſcher Welttheil, einſt
Abgrund von Hainen und Eisinſeln, auf dem
Balle werden muͤſſen! — was wirſt du noch
werden!

Die ſogenannte Aufklaͤrung und Bildung
der Welt hat nur einen ſchmalen Streif des
Erdballs beruͤhrt und gehalten: auch koͤn-
nen wir nicht etwas in ihrem Laufe, Stande
und Umlaufe aͤndern, ohne daß ſich zugleich
alles aͤndert. Wie? wenn z. E. allein die
Einfuͤhrung der Wiſſenſchaften, der Reli-
gion,
der Reformation anders geweſen waͤ-
re? — ſich die nordiſchen Voͤlker anders ge-
miſcht, anders gefolgt waͤren? nicht das
Pabſtthum ſo lange Vehikulum ſeyn muͤſ-
ſen? — was koͤnnt ich nicht noch zehnfach
mehr fragen? — Traͤume! Es war nicht:
und hinten nach koͤnnen wir immer etwas
durchblicken, warum es nicht war? Freylich
aber ein kleines Etwas!

Auch ſieht man, warum eigentlich keine Na-
tion hinter der andern, ſelbſt mit allem Zu-
behoͤr
derſelben jemals worden iſt, was die
andre war? Mochten alle Mittel ihrer Kul-
tur
dieſelbe ſeyn: Kultur nimmer dieſelbe,

weil
K 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0155" n="151"/><fw place="top" type="header"><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/></fw> ha&#x017F;t du <hi rendition="#b">kleiner nordi&#x017F;cher Welttheil,</hi> ein&#x017F;t<lb/>
Abgrund von <hi rendition="#b">Hainen</hi> und <hi rendition="#b">Eisin&#x017F;eln,</hi> auf dem<lb/>
Balle <hi rendition="#b">werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en!</hi> &#x2014; was wir&#x017F;t du <hi rendition="#b">noch<lb/>
werden!</hi> &#x2014;</p><lb/>
            <p>Die &#x017F;ogenannte <hi rendition="#b">Aufkla&#x0364;rung</hi> und <hi rendition="#b">Bildung</hi><lb/>
der <hi rendition="#b">Welt</hi> hat nur einen <hi rendition="#b">&#x017F;chmalen Streif</hi> des<lb/><hi rendition="#b">Erdballs beru&#x0364;hrt</hi> und <hi rendition="#b">gehalten:</hi> auch ko&#x0364;n-<lb/>
nen wir nicht etwas in ihrem Laufe, Stande<lb/>
und Umlaufe a&#x0364;ndern, ohne daß &#x017F;ich zugleich<lb/><hi rendition="#b">alles a&#x0364;ndert.</hi> Wie? wenn z. E. allein die<lb/><hi rendition="#b">Einfu&#x0364;hrung</hi> der <hi rendition="#b">Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften,</hi> der <hi rendition="#b">Reli-<lb/>
gion,</hi> der <hi rendition="#b">Reformation anders</hi> gewe&#x017F;en wa&#x0364;-<lb/>
re? &#x2014; &#x017F;ich die nordi&#x017F;chen Vo&#x0364;lker <hi rendition="#b">anders</hi> ge-<lb/>
mi&#x017F;cht, <hi rendition="#b">anders</hi> gefolgt wa&#x0364;ren? nicht das<lb/><hi rendition="#b">Pab&#x017F;tthum &#x017F;o lange Vehikulum</hi> &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en? &#x2014; was ko&#x0364;nnt ich nicht noch zehnfach<lb/>
mehr fragen? &#x2014; Tra&#x0364;ume! Es war nicht:<lb/>
und hinten nach ko&#x0364;nnen wir immer etwas<lb/>
durchblicken, <hi rendition="#b">warum</hi> es nicht <hi rendition="#b">war?</hi> Freylich<lb/>
aber ein kleines Etwas!</p><lb/>
            <p>Auch &#x017F;ieht man, warum eigentlich keine Na-<lb/>
tion <hi rendition="#b">hinter der andern,</hi> &#x017F;elb&#x017F;t mit <hi rendition="#b">allem Zu-<lb/>
beho&#x0364;r</hi> der&#x017F;elben jemals <hi rendition="#b">worden</hi> i&#x017F;t, was die<lb/>
andre <hi rendition="#b">war?</hi> Mochten alle <hi rendition="#b">Mittel ihrer Kul-<lb/>
tur</hi> die&#x017F;elbe &#x017F;eyn: <hi rendition="#b">Kultur nimmer die&#x017F;elbe,</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">K 4</fw><fw place="bottom" type="catch">weil</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[151/0155] haſt du kleiner nordiſcher Welttheil, einſt Abgrund von Hainen und Eisinſeln, auf dem Balle werden muͤſſen! — was wirſt du noch werden! — Die ſogenannte Aufklaͤrung und Bildung der Welt hat nur einen ſchmalen Streif des Erdballs beruͤhrt und gehalten: auch koͤn- nen wir nicht etwas in ihrem Laufe, Stande und Umlaufe aͤndern, ohne daß ſich zugleich alles aͤndert. Wie? wenn z. E. allein die Einfuͤhrung der Wiſſenſchaften, der Reli- gion, der Reformation anders geweſen waͤ- re? — ſich die nordiſchen Voͤlker anders ge- miſcht, anders gefolgt waͤren? nicht das Pabſtthum ſo lange Vehikulum ſeyn muͤſ- ſen? — was koͤnnt ich nicht noch zehnfach mehr fragen? — Traͤume! Es war nicht: und hinten nach koͤnnen wir immer etwas durchblicken, warum es nicht war? Freylich aber ein kleines Etwas! Auch ſieht man, warum eigentlich keine Na- tion hinter der andern, ſelbſt mit allem Zu- behoͤr derſelben jemals worden iſt, was die andre war? Mochten alle Mittel ihrer Kul- tur dieſelbe ſeyn: Kultur nimmer dieſelbe, weil K 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/155
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/155>, abgerufen am 21.11.2024.