Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



Autorität Alles lernen? wo wir für Grübe-
ley und Raisonnement des Guten, Wahren
und Schönen kein Ohr, keinen Sinn, keine
Seele; aber für die sogenannten Vorurtheile
und Eindrücke der Erziehung Alles haben --
siehe! diese sogenannte Vorurtheile, ohne Bar-
bara celarent
aufgefaßt, und von keiner De-
monstration des Naturrechts begleitet, wie
stark, wie tief, wie nützlich und ewig! --
Grundsäulen
alles dessen, was später über sie
gebaut werden soll, oder vielmehr schon ganz
und gar Keime, aus dem sich alles Spätere
und Schwächere, es heiße so glorwürdig als
es wolle (jeder vernünftelt doch nur nach sei-
ner Empfindung) entwickelt -- also die stärk-
sten, ewigen fast göttlichen Züge, die unser
ganzes Leben beseligen oder verderben; mit
denen, wenn sie uns verlassen, uns alles ver-
läßt -- -- Und siehe, was jedem einzelnen
Menschen in seiner Kindheit
unumgänglich
noth ist: dem ganzen Menschengeschlecht in
seiner Kindheit
gewiß nicht weniger. Was
du Despotismus in seinem zartesten Keime
nennest, und eigentlich nur Vaterautorität
war, Haus und Hütte zu regieren -- siehe
wies Dinge ausrichtete, die du jetzt mit alle
deiner kalten Philosophie des Jahrhunderts

wohl



Autoritaͤt Alles lernen? wo wir fuͤr Gruͤbe-
ley und Raiſonnement des Guten, Wahren
und Schoͤnen kein Ohr, keinen Sinn, keine
Seele; aber fuͤr die ſogenannten Vorurtheile
und Eindruͤcke der Erziehung Alles haben —
ſiehe! dieſe ſogenannte Vorurtheile, ohne Bar-
bara celarent
aufgefaßt, und von keiner De-
monſtration des Naturrechts begleitet, wie
ſtark, wie tief, wie nuͤtzlich und ewig! —
Grundſaͤulen
alles deſſen, was ſpaͤter uͤber ſie
gebaut werden ſoll, oder vielmehr ſchon ganz
und gar Keime, aus dem ſich alles Spaͤtere
und Schwaͤchere, es heiße ſo glorwuͤrdig als
es wolle (jeder vernuͤnftelt doch nur nach ſei-
ner Empfindung) entwickelt — alſo die ſtaͤrk-
ſten, ewigen faſt goͤttlichen Zuͤge, die unſer
ganzes Leben beſeligen oder verderben; mit
denen, wenn ſie uns verlaſſen, uns alles ver-
laͤßt — — Und ſiehe, was jedem einzelnen
Menſchen in ſeiner Kindheit
unumgaͤnglich
noth iſt: dem ganzen Menſchengeſchlecht in
ſeiner Kindheit
gewiß nicht weniger. Was
du Deſpotismus in ſeinem zarteſten Keime
nenneſt, und eigentlich nur Vaterautoritaͤt
war, Haus und Huͤtte zu regieren — ſiehe
wies Dinge ausrichtete, die du jetzt mit alle
deiner kalten Philoſophie des Jahrhunderts

wohl
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0016" n="12"/><fw place="top" type="header"><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/></fw> Autorita&#x0364;t Alles lernen? wo wir fu&#x0364;r Gru&#x0364;be-<lb/>
ley und Rai&#x017F;onnement des Guten, Wahren<lb/>
und Scho&#x0364;nen kein Ohr, keinen Sinn, keine<lb/>
Seele; aber fu&#x0364;r die &#x017F;ogenannten <hi rendition="#b">Vorurtheile</hi><lb/>
und <hi rendition="#b">Eindru&#x0364;cke der Erziehung</hi> Alles haben &#x2014;<lb/>
&#x017F;iehe! die&#x017F;e &#x017F;ogenannte Vorurtheile, ohne <hi rendition="#aq">Bar-<lb/>
bara celarent</hi> aufgefaßt, und von keiner De-<lb/>
mon&#x017F;tration des Naturrechts begleitet, wie<lb/><hi rendition="#b">&#x017F;tark,</hi> wie <hi rendition="#b">tief,</hi> wie <hi rendition="#b">nu&#x0364;tzlich</hi> und <hi rendition="#b">ewig! &#x2014;<lb/>
Grund&#x017F;a&#x0364;ulen</hi> alles de&#x017F;&#x017F;en, was &#x017F;pa&#x0364;ter u&#x0364;ber &#x017F;ie<lb/>
gebaut werden &#x017F;oll, oder vielmehr &#x017F;chon ganz<lb/>
und gar <hi rendition="#b">Keime,</hi> aus dem &#x017F;ich alles Spa&#x0364;tere<lb/>
und Schwa&#x0364;chere, es heiße &#x017F;o glorwu&#x0364;rdig als<lb/>
es wolle (jeder vernu&#x0364;nftelt doch nur nach &#x017F;ei-<lb/>
ner Empfindung) <hi rendition="#b">entwickelt</hi> &#x2014; al&#x017F;o die &#x017F;ta&#x0364;rk-<lb/>
&#x017F;ten, ewigen fa&#x017F;t go&#x0364;ttlichen <hi rendition="#b">Zu&#x0364;ge,</hi> die un&#x017F;er<lb/>
ganzes Leben <hi rendition="#b">be&#x017F;eligen</hi> oder <hi rendition="#b">verderben;</hi> mit<lb/>
denen, wenn &#x017F;ie uns verla&#x017F;&#x017F;en, uns alles ver-<lb/>
la&#x0364;ßt &#x2014; &#x2014; Und &#x017F;iehe, was jedem <hi rendition="#b">einzelnen<lb/>
Men&#x017F;chen in &#x017F;einer Kindheit</hi> unumga&#x0364;nglich<lb/>
noth i&#x017F;t: dem <hi rendition="#b">ganzen Men&#x017F;chenge&#x017F;chlecht in<lb/>
&#x017F;einer Kindheit</hi> gewiß nicht weniger. Was<lb/>
du <hi rendition="#b">De&#x017F;potis</hi>mus in &#x017F;einem zarte&#x017F;ten Keime<lb/>
nenne&#x017F;t, und eigentlich nur <hi rendition="#b">Vaterautorita&#x0364;t</hi><lb/>
war, Haus und Hu&#x0364;tte zu regieren &#x2014; &#x017F;iehe<lb/>
wies Dinge ausrichtete, die du jetzt mit alle<lb/>
deiner <hi rendition="#b">kalten Philo&#x017F;ophie des Jahrhunderts</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wohl</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[12/0016] Autoritaͤt Alles lernen? wo wir fuͤr Gruͤbe- ley und Raiſonnement des Guten, Wahren und Schoͤnen kein Ohr, keinen Sinn, keine Seele; aber fuͤr die ſogenannten Vorurtheile und Eindruͤcke der Erziehung Alles haben — ſiehe! dieſe ſogenannte Vorurtheile, ohne Bar- bara celarent aufgefaßt, und von keiner De- monſtration des Naturrechts begleitet, wie ſtark, wie tief, wie nuͤtzlich und ewig! — Grundſaͤulen alles deſſen, was ſpaͤter uͤber ſie gebaut werden ſoll, oder vielmehr ſchon ganz und gar Keime, aus dem ſich alles Spaͤtere und Schwaͤchere, es heiße ſo glorwuͤrdig als es wolle (jeder vernuͤnftelt doch nur nach ſei- ner Empfindung) entwickelt — alſo die ſtaͤrk- ſten, ewigen faſt goͤttlichen Zuͤge, die unſer ganzes Leben beſeligen oder verderben; mit denen, wenn ſie uns verlaſſen, uns alles ver- laͤßt — — Und ſiehe, was jedem einzelnen Menſchen in ſeiner Kindheit unumgaͤnglich noth iſt: dem ganzen Menſchengeſchlecht in ſeiner Kindheit gewiß nicht weniger. Was du Deſpotismus in ſeinem zarteſten Keime nenneſt, und eigentlich nur Vaterautoritaͤt war, Haus und Huͤtte zu regieren — ſiehe wies Dinge ausrichtete, die du jetzt mit alle deiner kalten Philoſophie des Jahrhunderts wohl

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/16
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/16>, abgerufen am 21.11.2024.