Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

Bild:
<< vorherige Seite




Zweyter Abschnitt.


Auch die römische Weltverfassung erreichte
ihr Ende, und je grösser das Gebäude,
so höher es stand, mit desto grösserm Stur-
ze fiels! die halbe Welt war Trümmer.
Völker und Erdtheile hatten unter dem Baume
gewohnt, und nun, da die Stimme der hei-
ligen Wächter rief! "haut ihn ab!" welch ei-
ne große Leere! Wie ein Riß im Faden der
Weltbegebenheiten! nichts minder, als eine
neue Welt
war nöthig, den Riß zu heilen.

Norden wars. Und was man auch nun
über den Zustand dieser Völker für Ursprün-
ge und Systeme ersinnen mag: das simpelste
scheint das wahreste: in Ruhe warens gleich-
sam "Patriarchien wie sie in Norden seyn
"konnten."
Da unter solchem Klima kein
morgenländisches Hirtenleben möglich war,
schwerere Bedürfnisse hier den menschlichen
Geist mehr druckten, als wo die Natur fast
allein für den Menschen würkte: eben die
schwerere Bedürfnisse, und die Nordluft die
Menschen aber mehr härtete, als sie im warmen

aro-




Zweyter Abſchnitt.


Auch die roͤmiſche Weltverfaſſung erreichte
ihr Ende, und je groͤſſer das Gebaͤude,
ſo hoͤher es ſtand, mit deſto groͤſſerm Stur-
ze fiels! die halbe Welt war Truͤmmer.
Voͤlker und Erdtheile hatten unter dem Baume
gewohnt, und nun, da die Stimme der hei-
ligen Waͤchter rief! „haut ihn ab!„ welch ei-
ne große Leere! Wie ein Riß im Faden der
Weltbegebenheiten! nichts minder, als eine
neue Welt
war noͤthig, den Riß zu heilen.

Norden wars. Und was man auch nun
uͤber den Zuſtand dieſer Voͤlker fuͤr Urſpruͤn-
ge und Syſteme erſinnen mag: das ſimpelſte
ſcheint das wahreſte: in Ruhe warens gleich-
ſam „Patriarchien wie ſie in Norden ſeyn
„konnten.„
Da unter ſolchem Klima kein
morgenlaͤndiſches Hirtenleben moͤglich war,
ſchwerere Beduͤrfniſſe hier den menſchlichen
Geiſt mehr druckten, als wo die Natur faſt
allein fuͤr den Menſchen wuͤrkte: eben die
ſchwerere Beduͤrfniſſe, und die Nordluft die
Menſchen aber mehr haͤrtete, als ſie im warmen

aro-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0068" n="64"/>
        <fw place="top" type="header">
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </fw>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Zweyter Ab&#x017F;chnitt.</hi> </hi> </head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p><hi rendition="#in">A</hi>uch die <hi rendition="#b">ro&#x0364;mi&#x017F;che Weltverfa&#x017F;&#x017F;ung</hi> erreichte<lb/>
ihr Ende, und je <hi rendition="#b">gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;er</hi> das Geba&#x0364;ude,<lb/>
&#x017F;o <hi rendition="#b">ho&#x0364;her</hi> es &#x017F;tand, mit de&#x017F;to gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;erm Stur-<lb/>
ze <hi rendition="#b">fiels!</hi> die halbe Welt war <hi rendition="#b">Tru&#x0364;mmer.</hi><lb/>
Vo&#x0364;lker und Erdtheile hatten unter dem Baume<lb/>
gewohnt, und nun, da die Stimme der hei-<lb/>
ligen Wa&#x0364;chter rief! &#x201E;haut ihn ab!&#x201E; welch ei-<lb/>
ne große <hi rendition="#b">Leere!</hi> Wie ein Riß im Faden der<lb/>
Weltbegebenheiten! nichts minder, als <hi rendition="#b">eine<lb/>
neue Welt</hi> war no&#x0364;thig, den <hi rendition="#b">Riß zu heilen.</hi></p><lb/>
          <p><hi rendition="#b">Norden</hi> wars. Und was man auch nun<lb/>
u&#x0364;ber den Zu&#x017F;tand <hi rendition="#b">die&#x017F;er Vo&#x0364;lker</hi> fu&#x0364;r Ur&#x017F;pru&#x0364;n-<lb/>
ge und Sy&#x017F;teme er&#x017F;innen mag: das &#x017F;impel&#x017F;te<lb/>
&#x017F;cheint das wahre&#x017F;te: in Ruhe warens gleich-<lb/>
&#x017F;am <hi rendition="#b">&#x201E;Patriarchien wie &#x017F;ie in Norden &#x017F;eyn<lb/>
&#x201E;konnten.&#x201E;</hi> Da unter <hi rendition="#b">&#x017F;olchem Klima</hi> kein<lb/>
morgenla&#x0364;ndi&#x017F;ches <hi rendition="#b">Hirtenleben</hi> mo&#x0364;glich war,<lb/><hi rendition="#b">&#x017F;chwerere Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e</hi> hier den men&#x017F;chlichen<lb/>
Gei&#x017F;t mehr <hi rendition="#b">druckten,</hi> als wo die Natur fa&#x017F;t<lb/>
allein fu&#x0364;r den Men&#x017F;chen wu&#x0364;rkte: eben die<lb/><hi rendition="#b">&#x017F;chwerere Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e,</hi> und die <hi rendition="#b">Nordluft</hi> die<lb/>
Men&#x017F;chen aber mehr <hi rendition="#b">ha&#x0364;rtete,</hi> als &#x017F;ie im warmen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">aro-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[64/0068] Zweyter Abſchnitt. Auch die roͤmiſche Weltverfaſſung erreichte ihr Ende, und je groͤſſer das Gebaͤude, ſo hoͤher es ſtand, mit deſto groͤſſerm Stur- ze fiels! die halbe Welt war Truͤmmer. Voͤlker und Erdtheile hatten unter dem Baume gewohnt, und nun, da die Stimme der hei- ligen Waͤchter rief! „haut ihn ab!„ welch ei- ne große Leere! Wie ein Riß im Faden der Weltbegebenheiten! nichts minder, als eine neue Welt war noͤthig, den Riß zu heilen. Norden wars. Und was man auch nun uͤber den Zuſtand dieſer Voͤlker fuͤr Urſpruͤn- ge und Syſteme erſinnen mag: das ſimpelſte ſcheint das wahreſte: in Ruhe warens gleich- ſam „Patriarchien wie ſie in Norden ſeyn „konnten.„ Da unter ſolchem Klima kein morgenlaͤndiſches Hirtenleben moͤglich war, ſchwerere Beduͤrfniſſe hier den menſchlichen Geiſt mehr druckten, als wo die Natur faſt allein fuͤr den Menſchen wuͤrkte: eben die ſchwerere Beduͤrfniſſe, und die Nordluft die Menſchen aber mehr haͤrtete, als ſie im warmen aro-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/68
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/68>, abgerufen am 21.11.2024.