[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.der Mann, der Priester, der Königssohn, bei Es war vom Griechen Sprüchwort, daß er lichen
der Mann, der Prieſter, der Koͤnigsſohn, bei Es war vom Griechen Spruͤchwort, daß er lichen
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0035" n="32"/> der Mann, der Prieſter, der Koͤnigsſohn, bei<lb/> einem Opfer, vor dem verſammleten Volke, war<lb/> er nackt? ſtand er unbekleidet da, als ihn die<lb/> Schlangen umfielen? Wer denkt daran, wenn<lb/> er jetzt den Laokoon der Kunſt ſiehet? wer ſoll dar-<lb/> an denken? Wer an die <hi rendition="#aq">vittas</hi> denken, <hi rendition="#aq">ſanie,<lb/> atroque cruore madentes,</hi> da die hier nichts thaͤ-<lb/> ten, als ſeine leidende Stirn voll Seufzen und<lb/> Todtenkampfes zum prieſterlichen Steinpflaſter zu<lb/> machen? wer an ein Opfergewand denken, das<lb/> dieſe arbeitende Bruſt, dieſe giftgeſchwollenen<lb/> Adern, dieſe ringenden und ſchon ermattenden<lb/> Vaterhaͤnde zu todtem Fels ſchuͤffe? O der Pe-<lb/> danten des Ueblichen, des Wohlanſtaͤndigen, des<lb/> ſchoͤnbeſchreibenden Virgils, die ja nur Prieſter-<lb/> figuren im Holzmantel ſehen moͤgen! — und im-<lb/> mer nur ſolche ſehen ſollten! —</p><lb/> <p>Es war vom Griechen Spruͤchwort, daß er<lb/> lieber Fuͤlle als Huͤlle gab, das iſt, <hi rendition="#fr">ſchoͤne</hi> Fuͤlle,<lb/> denn ſonſt bekleidete er auch. Philoſophen, Cybelen,<lb/> hundertjaͤhrige Matronen konnten immer bekleidet<lb/> da ſtehn; auch wo es Gottesdienſt, und Zweck<lb/> und Eindruck der Bildſaͤule foderte oder ertrug.<lb/> Ein Philoſoph iſt ja nur immer <hi rendition="#fr">Kopf-</hi> oder <hi rendition="#fr">Bruſt-<lb/> bild:</hi> wenn er alſo auch nur, wie Zeno, ſein<lb/> Haupt uͤber der Steinhuͤlle zeiget! er <hi rendition="#fr">muß</hi> nicht,<lb/> als Juͤngling oder Fechter da ſtehn. Eine <hi rendition="#fr">Niobe,</hi><lb/> dieſe ungluͤckliche Mutter in Mitte ihrer ungluͤck-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">lichen</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [32/0035]
der Mann, der Prieſter, der Koͤnigsſohn, bei
einem Opfer, vor dem verſammleten Volke, war
er nackt? ſtand er unbekleidet da, als ihn die
Schlangen umfielen? Wer denkt daran, wenn
er jetzt den Laokoon der Kunſt ſiehet? wer ſoll dar-
an denken? Wer an die vittas denken, ſanie,
atroque cruore madentes, da die hier nichts thaͤ-
ten, als ſeine leidende Stirn voll Seufzen und
Todtenkampfes zum prieſterlichen Steinpflaſter zu
machen? wer an ein Opfergewand denken, das
dieſe arbeitende Bruſt, dieſe giftgeſchwollenen
Adern, dieſe ringenden und ſchon ermattenden
Vaterhaͤnde zu todtem Fels ſchuͤffe? O der Pe-
danten des Ueblichen, des Wohlanſtaͤndigen, des
ſchoͤnbeſchreibenden Virgils, die ja nur Prieſter-
figuren im Holzmantel ſehen moͤgen! — und im-
mer nur ſolche ſehen ſollten! —
Es war vom Griechen Spruͤchwort, daß er
lieber Fuͤlle als Huͤlle gab, das iſt, ſchoͤne Fuͤlle,
denn ſonſt bekleidete er auch. Philoſophen, Cybelen,
hundertjaͤhrige Matronen konnten immer bekleidet
da ſtehn; auch wo es Gottesdienſt, und Zweck
und Eindruck der Bildſaͤule foderte oder ertrug.
Ein Philoſoph iſt ja nur immer Kopf- oder Bruſt-
bild: wenn er alſo auch nur, wie Zeno, ſein
Haupt uͤber der Steinhuͤlle zeiget! er muß nicht,
als Juͤngling oder Fechter da ſtehn. Eine Niobe,
dieſe ungluͤckliche Mutter in Mitte ihrer ungluͤck-
lichen
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