Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896.Dieser Einwand wird namentlich in Frankreich hervorkommen. Wie sehr ich auch die Persönlichkeit verehre, die starke Wenn nun alle oder einige französische Juden gegen Nun würde allerdings die staatbildende Bewegung, die Noch mehr Vortheil als die christlichen Bürger würden die Dieser Einwand wird namentlich in Frankreich hervorkommen. Wie sehr ich auch die Persönlichkeit verehre, die starke Wenn nun alle oder einige französische Juden gegen Nun würde allerdings die staatbildende Bewegung, die Noch mehr Vortheil als die christlichen Bürger würden die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0014"/> <p>Dieser Einwand wird namentlich in Frankreich hervorkommen.<lb/> Ich erwarte ihn auch an anderen Orten, will aber<lb/> nur den französischen Juden im voraus antworten, weil sie das<lb/> stärkste Beispiel liefern.<lb/></p> <p>Wie sehr ich auch die Persönlichkeit verehre, die starke<lb/> Einzelpersönlichkeit des Staatsmannes, Erfinders, Künstlers,<lb/> Philosophen oder Feldherrn sowohl, als die Gesammtpersönlichkeit<lb/> einer historischen Gruppe von Menschen, die wir Volk<lb/> nennen, wie sehr ich auch die Persönlichkeit verehre, beklage<lb/> ich doch nicht ihren Untergang. Wer untergehen kann, will<lb/> und muss, der soll untergehen. Die Volkspersönlichkeit der<lb/> Juden kann, will und muss aber nicht untergehen. Sie kann<lb/> nicht, weil äussere Feinde sie zusammenhalten. Sie will nicht,<lb/> das hat sie in zwei Jahrtausenden unter ungeheuren Leiden<lb/> bewiesen. Sie muss nicht, das versuche ich in dieser Schrift<lb/> nach vielen anderen Juden, welche die Hoffnung nicht aufgaben,<lb/> darzuthun. Ganze Aeste des Judenthumes können absterben,<lb/> abfallen; der Baum lebt.<lb/></p> <p>Wenn nun alle oder einige französische Juden gegen<lb/> diesen Entwurf protestiren, weil sie sich bereits „assimilirt“<lb/> hätten, so ist meine Antwort einfach: Die ganze Sache geht<lb/> sie nichts an. Sie sind israelitische Franzosen, vortrefflich!<lb/> Dies ist jedoch eine innere Angelegenheit der Juden.<lb/></p> <p>Nun würde allerdings die staatbildende Bewegung, die<lb/> ich vorschlage, den israelitischen Franzosen ebensowenig schaden,<lb/> wie den „Assimilirten“ anderer Länder. Nützen würde sie ihnen<lb/> im Gegentheile, nützen! Denn sie wären in ihrer „chromatischen<lb/> Function“, um Darwin's Wort zu gebrauchen, nicht mehr gestört.<lb/> Sie könnten sich ruhig assimiliren, weil der jetzige Antisemitismus<lb/> für immer zum Stillstand gebracht wäre. Man würde<lb/> es ihnen auch glauben, dass sie bis in's Innerste ihrer Seele<lb/> assimilirt sind, wenn der neue Judenstaat mit seinen besseren<lb/> Einrichtungen zur Wahrheit geworden ist, und sie dennoch<lb/> bleiben, wo sie jetzt wohnen.<lb/></p> <p>Noch mehr Vortheil als die christlichen Bürger würden die<lb/> „Assimilirten“ von der Entfernung der stammestreuen Juden haben.<lb/> Denn die Assimilirten werden die beunruhigende, unberechenbare,<lb/> unvermeidliche Concurrenz des jüdischen Proletariats los, das durch<lb/> politischen Druck und wirthschaftliche Noth von Ort zu Ort,<lb/> von Land zu Land geworfen wird. Dieses schwebende Proletariat<lb/> würde festgemacht werden. Jetzt können manche christliche<lb/> Staatsbürger – man nennt sie Antisemiten – sich gegen<lb/> die Einwanderung fremder Juden sträuben. Die israelitischen<lb/> Staatsbürger können das nicht, obwohl sie viel schwerer be- </p> </div> </body> </text> </TEI> [0014]
Dieser Einwand wird namentlich in Frankreich hervorkommen.
Ich erwarte ihn auch an anderen Orten, will aber
nur den französischen Juden im voraus antworten, weil sie das
stärkste Beispiel liefern.
Wie sehr ich auch die Persönlichkeit verehre, die starke
Einzelpersönlichkeit des Staatsmannes, Erfinders, Künstlers,
Philosophen oder Feldherrn sowohl, als die Gesammtpersönlichkeit
einer historischen Gruppe von Menschen, die wir Volk
nennen, wie sehr ich auch die Persönlichkeit verehre, beklage
ich doch nicht ihren Untergang. Wer untergehen kann, will
und muss, der soll untergehen. Die Volkspersönlichkeit der
Juden kann, will und muss aber nicht untergehen. Sie kann
nicht, weil äussere Feinde sie zusammenhalten. Sie will nicht,
das hat sie in zwei Jahrtausenden unter ungeheuren Leiden
bewiesen. Sie muss nicht, das versuche ich in dieser Schrift
nach vielen anderen Juden, welche die Hoffnung nicht aufgaben,
darzuthun. Ganze Aeste des Judenthumes können absterben,
abfallen; der Baum lebt.
Wenn nun alle oder einige französische Juden gegen
diesen Entwurf protestiren, weil sie sich bereits „assimilirt“
hätten, so ist meine Antwort einfach: Die ganze Sache geht
sie nichts an. Sie sind israelitische Franzosen, vortrefflich!
Dies ist jedoch eine innere Angelegenheit der Juden.
Nun würde allerdings die staatbildende Bewegung, die
ich vorschlage, den israelitischen Franzosen ebensowenig schaden,
wie den „Assimilirten“ anderer Länder. Nützen würde sie ihnen
im Gegentheile, nützen! Denn sie wären in ihrer „chromatischen
Function“, um Darwin's Wort zu gebrauchen, nicht mehr gestört.
Sie könnten sich ruhig assimiliren, weil der jetzige Antisemitismus
für immer zum Stillstand gebracht wäre. Man würde
es ihnen auch glauben, dass sie bis in's Innerste ihrer Seele
assimilirt sind, wenn der neue Judenstaat mit seinen besseren
Einrichtungen zur Wahrheit geworden ist, und sie dennoch
bleiben, wo sie jetzt wohnen.
Noch mehr Vortheil als die christlichen Bürger würden die
„Assimilirten“ von der Entfernung der stammestreuen Juden haben.
Denn die Assimilirten werden die beunruhigende, unberechenbare,
unvermeidliche Concurrenz des jüdischen Proletariats los, das durch
politischen Druck und wirthschaftliche Noth von Ort zu Ort,
von Land zu Land geworfen wird. Dieses schwebende Proletariat
würde festgemacht werden. Jetzt können manche christliche
Staatsbürger – man nennt sie Antisemiten – sich gegen
die Einwanderung fremder Juden sträuben. Die israelitischen
Staatsbürger können das nicht, obwohl sie viel schwerer be-
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