Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Verpflanzung.

Bisher wurde nur gezeigt, wie die Auswanderung ohne
wirthschaftliche Erschütterung durchzuführen ist. Aber bei
einer solchen Auswanderung gibt es auch viele starke, tiefe
Gemüthsbewegungen. Es gibt alte Gewohnheiten, Erinnerungen,
mit denen wir Menschen an den Orten haften. Wir haben
Wiegen, wir haben Gräber, und man weiss, was dem jüdischen
Herzen die Gräber sind. Die Wiegen nehmen wir mit - in
ihnen schlummert rosig und lächelnd unsere Zukunft. Unsere
theueren Gräber müssen wir zurücklassen - ich glaube, von
denen werden wir habsüchtiges Volk uns am schwersten trennen.
Aber es muss sein.

Schon entfernt uns die wirthschaftliche Noth, der politische
Druck, der gesellschaftliche Hass aus unseren Wohnorten und
von unseren Gräbern. Die Juden ziehen schon jetzt jeden Augenblick
aus einem Land in's andere; eine starke Bewegung geht
sogar über's Meer nach den Vereinigten Staaten - wo man
uns auch nicht mag. Wo wird man uns denn mögen, solange
wir keine eigene Heimat haben?

Wir wollen aber den Juden eine Heimat geben. Nicht,
indem wir sie gewaltsam aus ihrem Erdreich herausreissen.
Nein, indem wir sie mit ihrem ganzen Wurzelwerk vorsichtig
ausheben und in einen besseren Boden übersetzen. So wie wir
im Wirthschaftlichen und Politischen neue Verhältnisse schaffen
wollen, so gedenken wir im Gemüthlichen alles Alte heilig zu
halten. Darüber nur wenige Andeutungen. Hier ist die Gefahr
am grössten, dass der Plan für eine Schwärmerei gehalten werde.

Und doch ist auch das möglich und wirklich, nur kommt
es in der Wirklichkeit als etwas verworrenes und hilfloses vor.
Durch die Organisirung kann es vernünftig werden.



Die Verpflanzung.

Bisher wurde nur gezeigt, wie die Auswanderung ohne
wirthschaftliche Erschütterung durchzuführen ist. Aber bei
einer solchen Auswanderung gibt es auch viele starke, tiefe
Gemüthsbewegungen. Es gibt alte Gewohnheiten, Erinnerungen,
mit denen wir Menschen an den Orten haften. Wir haben
Wiegen, wir haben Gräber, und man weiss, was dem jüdischen
Herzen die Gräber sind. Die Wiegen nehmen wir mit – in
ihnen schlummert rosig und lächelnd unsere Zukunft. Unsere
theueren Gräber müssen wir zurücklassen – ich glaube, von
denen werden wir habsüchtiges Volk uns am schwersten trennen.
Aber es muss sein.

Schon entfernt uns die wirthschaftliche Noth, der politische
Druck, der gesellschaftliche Hass aus unseren Wohnorten und
von unseren Gräbern. Die Juden ziehen schon jetzt jeden Augenblick
aus einem Land in's andere; eine starke Bewegung geht
sogar über's Meer nach den Vereinigten Staaten – wo man
uns auch nicht mag. Wo wird man uns denn mögen, solange
wir keine eigene Heimat haben?

Wir wollen aber den Juden eine Heimat geben. Nicht,
indem wir sie gewaltsam aus ihrem Erdreich herausreissen.
Nein, indem wir sie mit ihrem ganzen Wurzelwerk vorsichtig
ausheben und in einen besseren Boden übersetzen. So wie wir
im Wirthschaftlichen und Politischen neue Verhältnisse schaffen
wollen, so gedenken wir im Gemüthlichen alles Alte heilig zu
halten. Darüber nur wenige Andeutungen. Hier ist die Gefahr
am grössten, dass der Plan für eine Schwärmerei gehalten werde.

Und doch ist auch das möglich und wirklich, nur kommt
es in der Wirklichkeit als etwas verworrenes und hilfloses vor.
Durch die Organisirung kann es vernünftig werden.



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0055"/>
        <div n="2">
          <head>Die Verpflanzung.<lb/></head>
          <p>Bisher wurde nur gezeigt, wie die Auswanderung ohne<lb/>
wirthschaftliche Erschütterung durchzuführen ist. Aber bei<lb/>
einer solchen Auswanderung gibt es auch viele starke, tiefe<lb/>
Gemüthsbewegungen. Es gibt alte Gewohnheiten, Erinnerungen,<lb/>
mit denen wir Menschen an den Orten haften. Wir haben<lb/>
Wiegen, wir haben Gräber, und man weiss, was dem jüdischen<lb/>
Herzen die Gräber sind. Die Wiegen nehmen wir mit &#x2013; in<lb/>
ihnen schlummert rosig und lächelnd unsere Zukunft. Unsere<lb/>
theueren Gräber müssen wir zurücklassen &#x2013; ich glaube, von<lb/>
denen werden wir habsüchtiges Volk uns am schwersten trennen.<lb/>
Aber es muss sein.<lb/></p>
          <p>Schon entfernt uns die wirthschaftliche Noth, der politische<lb/>
Druck, der gesellschaftliche Hass aus unseren Wohnorten und<lb/>
von unseren Gräbern. Die Juden ziehen schon jetzt jeden Augenblick<lb/>
aus einem Land in's andere; eine starke Bewegung geht<lb/>
sogar über's Meer nach den Vereinigten Staaten &#x2013; wo man<lb/>
uns auch nicht mag. Wo wird man uns denn mögen, solange<lb/>
wir keine eigene Heimat haben?<lb/></p>
          <p>Wir wollen aber den Juden eine Heimat geben. Nicht,<lb/>
indem wir sie gewaltsam aus ihrem Erdreich herausreissen.<lb/>
Nein, indem wir sie mit ihrem ganzen Wurzelwerk vorsichtig<lb/>
ausheben und in einen besseren Boden übersetzen. So wie wir<lb/>
im Wirthschaftlichen und Politischen neue Verhältnisse schaffen<lb/>
wollen, so gedenken wir im Gemüthlichen alles Alte heilig zu<lb/>
halten. Darüber nur wenige Andeutungen. Hier ist die Gefahr<lb/>
am grössten, dass der Plan für eine Schwärmerei gehalten werde.<lb/></p>
          <p>Und doch ist auch das möglich und wirklich, nur kommt<lb/>
es in der Wirklichkeit als etwas verworrenes und hilfloses vor.<lb/>
Durch die Organisirung kann es vernünftig werden.<lb/></p>
        </div>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0055] Die Verpflanzung. Bisher wurde nur gezeigt, wie die Auswanderung ohne wirthschaftliche Erschütterung durchzuführen ist. Aber bei einer solchen Auswanderung gibt es auch viele starke, tiefe Gemüthsbewegungen. Es gibt alte Gewohnheiten, Erinnerungen, mit denen wir Menschen an den Orten haften. Wir haben Wiegen, wir haben Gräber, und man weiss, was dem jüdischen Herzen die Gräber sind. Die Wiegen nehmen wir mit – in ihnen schlummert rosig und lächelnd unsere Zukunft. Unsere theueren Gräber müssen wir zurücklassen – ich glaube, von denen werden wir habsüchtiges Volk uns am schwersten trennen. Aber es muss sein. Schon entfernt uns die wirthschaftliche Noth, der politische Druck, der gesellschaftliche Hass aus unseren Wohnorten und von unseren Gräbern. Die Juden ziehen schon jetzt jeden Augenblick aus einem Land in's andere; eine starke Bewegung geht sogar über's Meer nach den Vereinigten Staaten – wo man uns auch nicht mag. Wo wird man uns denn mögen, solange wir keine eigene Heimat haben? Wir wollen aber den Juden eine Heimat geben. Nicht, indem wir sie gewaltsam aus ihrem Erdreich herausreissen. Nein, indem wir sie mit ihrem ganzen Wurzelwerk vorsichtig ausheben und in einen besseren Boden übersetzen. So wie wir im Wirthschaftlichen und Politischen neue Verhältnisse schaffen wollen, so gedenken wir im Gemüthlichen alles Alte heilig zu halten. Darüber nur wenige Andeutungen. Hier ist die Gefahr am grössten, dass der Plan für eine Schwärmerei gehalten werde. Und doch ist auch das möglich und wirklich, nur kommt es in der Wirklichkeit als etwas verworrenes und hilfloses vor. Durch die Organisirung kann es vernünftig werden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

gutenberg.org: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in HTML. (2012-11-06T13:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus gutenberg.org entsprechen muss.
Austrian Literature Online: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-06T13:54:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von HTML nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-06T13:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen.
  • Der Zeilenfall wurde beibehalten, die Silbentrennung aber wurde aufgehoben.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896/55
Zitationshilfe: Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896/55>, abgerufen am 21.11.2024.