laut. Clemens zog sie fest an sich, streichelte ihr die Wangen und sagte dringend: "Du sollst nicht wei¬ nen! Ich will nicht von dir gehen, nie, nie! und eh ich das thäte, will ich lieber blind sein und Alles vergessen. Ich will nicht von dir, wenn dich's wei¬ nen macht! Komm, sei ruhig, sei froh! Du darfst dich nicht erhitzen, hat der Arzt gesagt, weil es den Augen nicht gut ist. Liebe, liebe Marlene!"
Er drückte sie fest in den Arm und küßte sie, was er nie zuvor gethan. Draußen rief seine Mutter vom nahen Pfarrhaus herüber. Er führte die fort und fort Weinende zu einem Lehnstuhle an der Wand, ließ sie darauf niedersinken und ging eilig hinaus.
Kurz darauf schritt ein würdiges Paar den Schlo߬ berg herab ins Dorf, der Pfarrer, eine hohe, gewal¬ tige Gestalt in aller Kraft und Majestät eines Apo¬ stels, der Küster, ein schlichtgewachsener Mann von demüthiger Haltung, dessen Haar schon weiß wurde. Sie waren beide vom Gutsherrn eingeladen worden, den Nachmittag mit ihm und dem Arzt zuzubringen, der auf die Einladung des Barons aus der Stadt herübergekommen war, die Augen der beiden Kinder zu prüfen und eine Operation zu versuchen. Nun hatte er den hocherfreuten Vätern wiederholt seine Hoffnung auf völlige Heilung versichert, und gebeten, auf den kommenden Tag sich bereit zu halten. Den Müttern lag es ob, in der Pfarre das Nöthige zu¬
laut. Clemens zog ſie feſt an ſich, ſtreichelte ihr die Wangen und ſagte dringend: „Du ſollſt nicht wei¬ nen! Ich will nicht von dir gehen, nie, nie! und eh ich das thäte, will ich lieber blind ſein und Alles vergeſſen. Ich will nicht von dir, wenn dich's wei¬ nen macht! Komm, ſei ruhig, ſei froh! Du darfſt dich nicht erhitzen, hat der Arzt geſagt, weil es den Augen nicht gut iſt. Liebe, liebe Marlene!“
Er drückte ſie feſt in den Arm und küßte ſie, was er nie zuvor gethan. Draußen rief ſeine Mutter vom nahen Pfarrhaus herüber. Er führte die fort und fort Weinende zu einem Lehnſtuhle an der Wand, ließ ſie darauf niederſinken und ging eilig hinaus.
Kurz darauf ſchritt ein würdiges Paar den Schlo߬ berg herab ins Dorf, der Pfarrer, eine hohe, gewal¬ tige Geſtalt in aller Kraft und Majeſtät eines Apo¬ ſtels, der Küſter, ein ſchlichtgewachſener Mann von demüthiger Haltung, deſſen Haar ſchon weiß wurde. Sie waren beide vom Gutsherrn eingeladen worden, den Nachmittag mit ihm und dem Arzt zuzubringen, der auf die Einladung des Barons aus der Stadt herübergekommen war, die Augen der beiden Kinder zu prüfen und eine Operation zu verſuchen. Nun hatte er den hocherfreuten Vätern wiederholt ſeine Hoffnung auf völlige Heilung verſichert, und gebeten, auf den kommenden Tag ſich bereit zu halten. Den Müttern lag es ob, in der Pfarre das Nöthige zu¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0020"n="8"/>
laut. Clemens zog ſie feſt an ſich, ſtreichelte ihr die<lb/>
Wangen und ſagte dringend: „Du <hirendition="#g">ſollſt</hi> nicht wei¬<lb/>
nen! Ich <hirendition="#g">will</hi> nicht von dir gehen, nie, nie! und<lb/>
eh ich das thäte, will ich lieber blind ſein und Alles<lb/>
vergeſſen. Ich <hirendition="#g">will</hi> nicht von dir, wenn dich's wei¬<lb/>
nen macht! Komm, ſei ruhig, ſei froh! Du darfſt<lb/>
dich nicht erhitzen, hat der Arzt geſagt, weil es den<lb/>
Augen nicht gut iſt. Liebe, liebe Marlene!“</p><lb/><p>Er drückte ſie feſt in den Arm und küßte ſie, was<lb/>
er nie zuvor gethan. Draußen rief ſeine Mutter vom<lb/>
nahen Pfarrhaus herüber. Er führte die fort und<lb/>
fort Weinende zu einem Lehnſtuhle an der Wand,<lb/>
ließ ſie darauf niederſinken und ging eilig hinaus.</p><lb/><p>Kurz darauf ſchritt ein würdiges Paar den Schlo߬<lb/>
berg herab ins Dorf, der Pfarrer, eine hohe, gewal¬<lb/>
tige Geſtalt in aller Kraft und Majeſtät eines Apo¬<lb/>ſtels, der Küſter, ein ſchlichtgewachſener Mann von<lb/>
demüthiger Haltung, deſſen Haar ſchon weiß wurde.<lb/>
Sie waren beide vom Gutsherrn eingeladen worden,<lb/>
den Nachmittag mit ihm und dem Arzt zuzubringen,<lb/>
der auf die Einladung des Barons aus der Stadt<lb/>
herübergekommen war, die Augen der beiden Kinder<lb/>
zu prüfen und eine Operation zu verſuchen. Nun<lb/>
hatte er den hocherfreuten Vätern wiederholt ſeine<lb/>
Hoffnung auf völlige Heilung verſichert, und gebeten,<lb/>
auf den kommenden Tag ſich bereit zu halten. Den<lb/>
Müttern lag es ob, in der Pfarre das Nöthige zu¬<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[8/0020]
laut. Clemens zog ſie feſt an ſich, ſtreichelte ihr die
Wangen und ſagte dringend: „Du ſollſt nicht wei¬
nen! Ich will nicht von dir gehen, nie, nie! und
eh ich das thäte, will ich lieber blind ſein und Alles
vergeſſen. Ich will nicht von dir, wenn dich's wei¬
nen macht! Komm, ſei ruhig, ſei froh! Du darfſt
dich nicht erhitzen, hat der Arzt geſagt, weil es den
Augen nicht gut iſt. Liebe, liebe Marlene!“
Er drückte ſie feſt in den Arm und küßte ſie, was
er nie zuvor gethan. Draußen rief ſeine Mutter vom
nahen Pfarrhaus herüber. Er führte die fort und
fort Weinende zu einem Lehnſtuhle an der Wand,
ließ ſie darauf niederſinken und ging eilig hinaus.
Kurz darauf ſchritt ein würdiges Paar den Schlo߬
berg herab ins Dorf, der Pfarrer, eine hohe, gewal¬
tige Geſtalt in aller Kraft und Majeſtät eines Apo¬
ſtels, der Küſter, ein ſchlichtgewachſener Mann von
demüthiger Haltung, deſſen Haar ſchon weiß wurde.
Sie waren beide vom Gutsherrn eingeladen worden,
den Nachmittag mit ihm und dem Arzt zuzubringen,
der auf die Einladung des Barons aus der Stadt
herübergekommen war, die Augen der beiden Kinder
zu prüfen und eine Operation zu verſuchen. Nun
hatte er den hocherfreuten Vätern wiederholt ſeine
Hoffnung auf völlige Heilung verſichert, und gebeten,
auf den kommenden Tag ſich bereit zu halten. Den
Müttern lag es ob, in der Pfarre das Nöthige zu¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/20>, abgerufen am 11.01.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.