Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Ich komme morgen und sehe nach Euch. Der Herr
sei mit Euch!

Sie ging rasch. Draußen begegnete sie Theodor,
der sie fast überrannte. Verzeihung! sagte er, ein
Bräutigam, der zu seiner Braut geht, darf es ja
wohl eilig haben. Nicht wahr, liebe Miß Betsy?
-- Er bemerkte die kalte Miene nicht, mit der ihm
entgegnet wurde: Ihr werdet Mary finden, in der
That sie erwartet Euch nicht. Er verabschiedete sich
schnell und stürzte in das Zimmer.

Zum ersten Mal fand er sie allein, in der fast
nächtlichen Dämmerung, am Fenster stehend, die
Locken ganz um das Haupt aufgelös't. Er dankte im
Stillen inbrünstig dem guten Glück, das so willig
schien, Alles auszugleichen. Leise tritt er heran; sie
bewegt sich nicht. Er schlingt den Arm um ihren
Leib und ruft ihren Namen. Sie fährt zusammen
und wendet sich um, und er sieht es feucht in ihren
Augen schwimmen. Du weinst, Marie, liebes theuer¬
stes Leben, du weinst? ruft er und will sie fester an
sich ziehen. Sie wehrt ihm, ohne zu antworten; sie
drückt die Augen zu und zerdrückt die Tropfen und
schüttelt mit dem Kopf. Nein, sagt sie endlich, ich
weine nicht, laß! Es ist vorbei, es ist gut!

Er geht drei Schritte auf und ab; er weiß nicht
wie ihm geschehen, aber mit Einem Schlag ist all
seine Freudigkeit gelähmt. Was hast du, fragt er

Ich komme morgen und ſehe nach Euch. Der Herr
ſei mit Euch!

Sie ging raſch. Draußen begegnete ſie Theodor,
der ſie faſt überrannte. Verzeihung! ſagte er, ein
Bräutigam, der zu ſeiner Braut geht, darf es ja
wohl eilig haben. Nicht wahr, liebe Miß Betſy?
— Er bemerkte die kalte Miene nicht, mit der ihm
entgegnet wurde: Ihr werdet Mary finden, in der
That ſie erwartet Euch nicht. Er verabſchiedete ſich
ſchnell und ſtürzte in das Zimmer.

Zum erſten Mal fand er ſie allein, in der faſt
nächtlichen Dämmerung, am Fenſter ſtehend, die
Locken ganz um das Haupt aufgelöſ't. Er dankte im
Stillen inbrünſtig dem guten Glück, das ſo willig
ſchien, Alles auszugleichen. Leiſe tritt er heran; ſie
bewegt ſich nicht. Er ſchlingt den Arm um ihren
Leib und ruft ihren Namen. Sie fährt zuſammen
und wendet ſich um, und er ſieht es feucht in ihren
Augen ſchwimmen. Du weinſt, Marie, liebes theuer¬
ſtes Leben, du weinſt? ruft er und will ſie feſter an
ſich ziehen. Sie wehrt ihm, ohne zu antworten; ſie
drückt die Augen zu und zerdrückt die Tropfen und
ſchüttelt mit dem Kopf. Nein, ſagt ſie endlich, ich
weine nicht, laß! Es iſt vorbei, es iſt gut!

Er geht drei Schritte auf und ab; er weiß nicht
wie ihm geſchehen, aber mit Einem Schlag iſt all
ſeine Freudigkeit gelähmt. Was haſt du, fragt er

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0214" n="202"/>
Ich komme morgen und &#x017F;ehe nach Euch. Der Herr<lb/>
&#x017F;ei mit Euch!</p><lb/>
        <p>Sie ging ra&#x017F;ch. Draußen begegnete &#x017F;ie Theodor,<lb/>
der &#x017F;ie fa&#x017F;t überrannte. Verzeihung! &#x017F;agte er, ein<lb/>
Bräutigam, der zu &#x017F;einer Braut geht, darf es ja<lb/>
wohl eilig haben. Nicht wahr, liebe Miß Bet&#x017F;y?<lb/>
&#x2014; Er bemerkte die kalte Miene nicht, mit der ihm<lb/>
entgegnet wurde: Ihr werdet Mary finden, in der<lb/>
That &#x017F;ie erwartet Euch nicht. Er verab&#x017F;chiedete &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;chnell und &#x017F;türzte in das Zimmer.</p><lb/>
        <p>Zum er&#x017F;ten Mal fand er &#x017F;ie allein, in der fa&#x017F;t<lb/>
nächtlichen Dämmerung, am Fen&#x017F;ter &#x017F;tehend, die<lb/>
Locken ganz um das Haupt aufgelö&#x017F;'t. Er dankte im<lb/>
Stillen inbrün&#x017F;tig dem guten Glück, das &#x017F;o willig<lb/>
&#x017F;chien, Alles auszugleichen. Lei&#x017F;e tritt er heran; &#x017F;ie<lb/>
bewegt &#x017F;ich nicht. Er &#x017F;chlingt den Arm um ihren<lb/>
Leib und ruft ihren Namen. Sie fährt zu&#x017F;ammen<lb/>
und wendet &#x017F;ich um, und er &#x017F;ieht es feucht in ihren<lb/>
Augen &#x017F;chwimmen. Du wein&#x017F;t, Marie, liebes theuer¬<lb/>
&#x017F;tes Leben, du wein&#x017F;t? ruft er und will &#x017F;ie fe&#x017F;ter an<lb/>
&#x017F;ich ziehen. Sie wehrt ihm, ohne zu antworten; &#x017F;ie<lb/>
drückt die Augen zu und zerdrückt die Tropfen und<lb/>
&#x017F;chüttelt mit dem Kopf. Nein, &#x017F;agt &#x017F;ie endlich, ich<lb/>
weine nicht, laß! Es i&#x017F;t vorbei, es i&#x017F;t gut!</p><lb/>
        <p>Er geht drei Schritte auf und ab; er weiß nicht<lb/>
wie ihm ge&#x017F;chehen, aber mit Einem Schlag i&#x017F;t all<lb/>
&#x017F;eine Freudigkeit gelähmt. Was ha&#x017F;t du, fragt er<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[202/0214] Ich komme morgen und ſehe nach Euch. Der Herr ſei mit Euch! Sie ging raſch. Draußen begegnete ſie Theodor, der ſie faſt überrannte. Verzeihung! ſagte er, ein Bräutigam, der zu ſeiner Braut geht, darf es ja wohl eilig haben. Nicht wahr, liebe Miß Betſy? — Er bemerkte die kalte Miene nicht, mit der ihm entgegnet wurde: Ihr werdet Mary finden, in der That ſie erwartet Euch nicht. Er verabſchiedete ſich ſchnell und ſtürzte in das Zimmer. Zum erſten Mal fand er ſie allein, in der faſt nächtlichen Dämmerung, am Fenſter ſtehend, die Locken ganz um das Haupt aufgelöſ't. Er dankte im Stillen inbrünſtig dem guten Glück, das ſo willig ſchien, Alles auszugleichen. Leiſe tritt er heran; ſie bewegt ſich nicht. Er ſchlingt den Arm um ihren Leib und ruft ihren Namen. Sie fährt zuſammen und wendet ſich um, und er ſieht es feucht in ihren Augen ſchwimmen. Du weinſt, Marie, liebes theuer¬ ſtes Leben, du weinſt? ruft er und will ſie feſter an ſich ziehen. Sie wehrt ihm, ohne zu antworten; ſie drückt die Augen zu und zerdrückt die Tropfen und ſchüttelt mit dem Kopf. Nein, ſagt ſie endlich, ich weine nicht, laß! Es iſt vorbei, es iſt gut! Er geht drei Schritte auf und ab; er weiß nicht wie ihm geſchehen, aber mit Einem Schlag iſt all ſeine Freudigkeit gelähmt. Was haſt du, fragt er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/214
Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/214>, abgerufen am 22.12.2024.