Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.muß. Aber wir sind heut vierzehn Stunden über die Berge gewandert, und dazu die Angst und Noth mit dem armen Weib, und Hunger und Kummer, -- die Kniee wollen mich nimmer tragen. Wenn Sie wüßten. Hochwürden, was wir ausgestanden haben, so sähen Sie wohl nicht so strenge von mir weg, denn Sie sind allezeit ein barmherziger Herr gewesen und haben keinen reuigen Sünder ohne Trost und Stärkung von sich gelassen. Der kleine Seelsorger schien von diesen demüthigen Worten getroffen zu werden. Er hob das Glas, ließ es erst gegen die Kerze in seiner rothen Glut spielen, trank einen bedächtigen Schluck und reichte es dann seinem Zögling, dem er jetzt zum ersten Mal gerade ins Gesicht zu sehen wagte. Trink einmal, Andree, sagte er; du wirst's brauchen können, 's ist Valentiner aus den besten Lagen, kaum vier Wochen von der Kelter weg, ich hab' ihn heut erst bekommen. Andree nahm das Glas, trank es mit einer ehrerbietigen Verbeugung gegen den geistlichen Herrn auf Einen Zug aus und sagte, indem er es wieder über den Tisch reichte: Ich dank' Ihnen, Hochwürden. Aber was ich fragen wollte, und worauf Sie mir vor Gottes Angesicht antworten müssen: Bin ich der Maria Ingram -- Gott hab' sie selig! -- ihr Sohn, oder bin ich's nicht? Damit war er wieder aufgestanden; trotz seiner Erschöpfung litt es ihn nicht in der Ruhe, er stemmte muß. Aber wir sind heut vierzehn Stunden über die Berge gewandert, und dazu die Angst und Noth mit dem armen Weib, und Hunger und Kummer, — die Kniee wollen mich nimmer tragen. Wenn Sie wüßten. Hochwürden, was wir ausgestanden haben, so sähen Sie wohl nicht so strenge von mir weg, denn Sie sind allezeit ein barmherziger Herr gewesen und haben keinen reuigen Sünder ohne Trost und Stärkung von sich gelassen. Der kleine Seelsorger schien von diesen demüthigen Worten getroffen zu werden. Er hob das Glas, ließ es erst gegen die Kerze in seiner rothen Glut spielen, trank einen bedächtigen Schluck und reichte es dann seinem Zögling, dem er jetzt zum ersten Mal gerade ins Gesicht zu sehen wagte. Trink einmal, Andree, sagte er; du wirst's brauchen können, 's ist Valentiner aus den besten Lagen, kaum vier Wochen von der Kelter weg, ich hab' ihn heut erst bekommen. Andree nahm das Glas, trank es mit einer ehrerbietigen Verbeugung gegen den geistlichen Herrn auf Einen Zug aus und sagte, indem er es wieder über den Tisch reichte: Ich dank' Ihnen, Hochwürden. Aber was ich fragen wollte, und worauf Sie mir vor Gottes Angesicht antworten müssen: Bin ich der Maria Ingram — Gott hab' sie selig! — ihr Sohn, oder bin ich's nicht? Damit war er wieder aufgestanden; trotz seiner Erschöpfung litt es ihn nicht in der Ruhe, er stemmte <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="3"> <p><pb facs="#f0107"/> muß. Aber wir sind heut vierzehn Stunden über die Berge gewandert, und dazu die Angst und Noth mit dem armen Weib, und Hunger und Kummer, — die Kniee wollen mich nimmer tragen. Wenn Sie wüßten. Hochwürden, was wir ausgestanden haben, so sähen Sie wohl nicht so strenge von mir weg, denn Sie sind allezeit ein barmherziger Herr gewesen und haben keinen reuigen Sünder ohne Trost und Stärkung von sich gelassen.</p><lb/> <p>Der kleine Seelsorger schien von diesen demüthigen Worten getroffen zu werden. Er hob das Glas, ließ es erst gegen die Kerze in seiner rothen Glut spielen, trank einen bedächtigen Schluck und reichte es dann seinem Zögling, dem er jetzt zum ersten Mal gerade ins Gesicht zu sehen wagte. Trink einmal, Andree, sagte er; du wirst's brauchen können, 's ist Valentiner aus den besten Lagen, kaum vier Wochen von der Kelter weg, ich hab' ihn heut erst bekommen.</p><lb/> <p>Andree nahm das Glas, trank es mit einer ehrerbietigen Verbeugung gegen den geistlichen Herrn auf Einen Zug aus und sagte, indem er es wieder über den Tisch reichte: Ich dank' Ihnen, Hochwürden. Aber was ich fragen wollte, und worauf Sie mir vor Gottes Angesicht antworten müssen: Bin ich der Maria Ingram — Gott hab' sie selig! — ihr Sohn, oder bin ich's nicht?</p><lb/> <p>Damit war er wieder aufgestanden; trotz seiner Erschöpfung litt es ihn nicht in der Ruhe, er stemmte<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0107]
muß. Aber wir sind heut vierzehn Stunden über die Berge gewandert, und dazu die Angst und Noth mit dem armen Weib, und Hunger und Kummer, — die Kniee wollen mich nimmer tragen. Wenn Sie wüßten. Hochwürden, was wir ausgestanden haben, so sähen Sie wohl nicht so strenge von mir weg, denn Sie sind allezeit ein barmherziger Herr gewesen und haben keinen reuigen Sünder ohne Trost und Stärkung von sich gelassen.
Der kleine Seelsorger schien von diesen demüthigen Worten getroffen zu werden. Er hob das Glas, ließ es erst gegen die Kerze in seiner rothen Glut spielen, trank einen bedächtigen Schluck und reichte es dann seinem Zögling, dem er jetzt zum ersten Mal gerade ins Gesicht zu sehen wagte. Trink einmal, Andree, sagte er; du wirst's brauchen können, 's ist Valentiner aus den besten Lagen, kaum vier Wochen von der Kelter weg, ich hab' ihn heut erst bekommen.
Andree nahm das Glas, trank es mit einer ehrerbietigen Verbeugung gegen den geistlichen Herrn auf Einen Zug aus und sagte, indem er es wieder über den Tisch reichte: Ich dank' Ihnen, Hochwürden. Aber was ich fragen wollte, und worauf Sie mir vor Gottes Angesicht antworten müssen: Bin ich der Maria Ingram — Gott hab' sie selig! — ihr Sohn, oder bin ich's nicht?
Damit war er wieder aufgestanden; trotz seiner Erschöpfung litt es ihn nicht in der Ruhe, er stemmte
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/107>, abgerufen am 16.02.2025. |