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Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Eine lautlose Stille hatte sich auf Einen Schlag über die Kopf an Kopf gedrängte Menge gelagert. Die tausend neugierigen Augen richteten sich auf die Straße, auf der der Hirzerfranz daherschwankte, rechts und links von einem seiner Zechkumpane geführt, mit denen er die Nacht drunten in der Schenke zusammengesessen hatte. Er war ohne Hut, das Gesicht stark geröthet, aber sein Gang und Wesen nicht wie eines Trunkenen. Der Haß und das Bewußtsein, der Wortführer der groben Menge zu sein und eine preiswürdige Rachethat zu vollziehen, hatten ihn nach kurzem Schlaf völlig wieder ernüchtert.

Der Gefangene im Hause drinnen hörte die wüthenden Worte deutlich und gleich darauf das orkanartige Brausen der tausend Zurufe, die von allen Seiten losbrachen und den Vollstrecker des Strafgerichts ermunterten. Er hörte, wie das Gewühl näher heranschwoll, und es überlief ihn todeskalt. Sein eigenes Leben hätte er immerhin darangegeben; die Welt war ihm feindlich gewesen von Jugend auf. Aber das arme junge Geschöpf , das drinnen so ahnungslos von der wochenlangen Mühsal ausruhte, wie konnte er es retten, wie ertragen, daß es um seinetwillen ein furchtbares Martyrium erlitt? Sollte er hinaustreten, um sich zu opfern und alle Schuld auf sich allein zu nehmen? Aber wer würde ihn anhören, wer ihm glauben, selbst wenn er sich auf das Zeugniß seines geistlichen Freundes berief? Und doch mußte es versucht werden

Eine lautlose Stille hatte sich auf Einen Schlag über die Kopf an Kopf gedrängte Menge gelagert. Die tausend neugierigen Augen richteten sich auf die Straße, auf der der Hirzerfranz daherschwankte, rechts und links von einem seiner Zechkumpane geführt, mit denen er die Nacht drunten in der Schenke zusammengesessen hatte. Er war ohne Hut, das Gesicht stark geröthet, aber sein Gang und Wesen nicht wie eines Trunkenen. Der Haß und das Bewußtsein, der Wortführer der groben Menge zu sein und eine preiswürdige Rachethat zu vollziehen, hatten ihn nach kurzem Schlaf völlig wieder ernüchtert.

Der Gefangene im Hause drinnen hörte die wüthenden Worte deutlich und gleich darauf das orkanartige Brausen der tausend Zurufe, die von allen Seiten losbrachen und den Vollstrecker des Strafgerichts ermunterten. Er hörte, wie das Gewühl näher heranschwoll, und es überlief ihn todeskalt. Sein eigenes Leben hätte er immerhin darangegeben; die Welt war ihm feindlich gewesen von Jugend auf. Aber das arme junge Geschöpf , das drinnen so ahnungslos von der wochenlangen Mühsal ausruhte, wie konnte er es retten, wie ertragen, daß es um seinetwillen ein furchtbares Martyrium erlitt? Sollte er hinaustreten, um sich zu opfern und alle Schuld auf sich allein zu nehmen? Aber wer würde ihn anhören, wer ihm glauben, selbst wenn er sich auf das Zeugniß seines geistlichen Freundes berief? Und doch mußte es versucht werden

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[0144] Eine lautlose Stille hatte sich auf Einen Schlag über die Kopf an Kopf gedrängte Menge gelagert. Die tausend neugierigen Augen richteten sich auf die Straße, auf der der Hirzerfranz daherschwankte, rechts und links von einem seiner Zechkumpane geführt, mit denen er die Nacht drunten in der Schenke zusammengesessen hatte. Er war ohne Hut, das Gesicht stark geröthet, aber sein Gang und Wesen nicht wie eines Trunkenen. Der Haß und das Bewußtsein, der Wortführer der groben Menge zu sein und eine preiswürdige Rachethat zu vollziehen, hatten ihn nach kurzem Schlaf völlig wieder ernüchtert. Der Gefangene im Hause drinnen hörte die wüthenden Worte deutlich und gleich darauf das orkanartige Brausen der tausend Zurufe, die von allen Seiten losbrachen und den Vollstrecker des Strafgerichts ermunterten. Er hörte, wie das Gewühl näher heranschwoll, und es überlief ihn todeskalt. Sein eigenes Leben hätte er immerhin darangegeben; die Welt war ihm feindlich gewesen von Jugend auf. Aber das arme junge Geschöpf , das drinnen so ahnungslos von der wochenlangen Mühsal ausruhte, wie konnte er es retten, wie ertragen, daß es um seinetwillen ein furchtbares Martyrium erlitt? Sollte er hinaustreten, um sich zu opfern und alle Schuld auf sich allein zu nehmen? Aber wer würde ihn anhören, wer ihm glauben, selbst wenn er sich auf das Zeugniß seines geistlichen Freundes berief? Und doch mußte es versucht werden

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T11:27:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T11:27:07Z)

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/144>, abgerufen am 21.11.2024.