Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Dann zog sie die Freundin mit sich fort, und die vier wundersam verbundenen Menschen gingen durch die stillen Haufen des Volks die Straße hin, die nach der Stadt hinunterführt. Ein lautloser Strom Andächtiger schloß sich ihnen an. Unten aber, wo der Marktplatz von Menschen wimmelte, öffnete sich ihnen eine breite Gasse. Das Gerücht war ihnen vorausgeeilt, an allen Hausthüren und Fenstern standen die Bürger und Bauern, um die Anna Hirzer zu sehen, die Heilige, die ihren Sohn einherführte, um ihn der ganzen Stadt zu zeigen und Zeugniß abzulegen, daß sie große Sünde gethan und der Barmherzigkeit ihres Gottes bedürftiger sei, als Mancher, der sie heilig gesprochen. Und eine Stunde später, als die Zehnuhrmesse eingeläutet wurde, kniete die Mutter mit ihren beiden Kindern ganz vorn zwischen den Stühlen auf dem kalten Stein. Der Geistliche am Altar sah sie wohl. Seine Stimme zitterte, als er die ersten Worte sprach. Dann tönte sie immer voller und freudiger durch den hohen Raum, und als die Orgel zum Schluß einfiel, sah er mit einem Blick nach oben, als wolle er allen Segen des Himmels auf das gebeugte graue Haupt und die beiden jugendlichen ihm zur Seite herabflehen. Dann zog sie die Freundin mit sich fort, und die vier wundersam verbundenen Menschen gingen durch die stillen Haufen des Volks die Straße hin, die nach der Stadt hinunterführt. Ein lautloser Strom Andächtiger schloß sich ihnen an. Unten aber, wo der Marktplatz von Menschen wimmelte, öffnete sich ihnen eine breite Gasse. Das Gerücht war ihnen vorausgeeilt, an allen Hausthüren und Fenstern standen die Bürger und Bauern, um die Anna Hirzer zu sehen, die Heilige, die ihren Sohn einherführte, um ihn der ganzen Stadt zu zeigen und Zeugniß abzulegen, daß sie große Sünde gethan und der Barmherzigkeit ihres Gottes bedürftiger sei, als Mancher, der sie heilig gesprochen. Und eine Stunde später, als die Zehnuhrmesse eingeläutet wurde, kniete die Mutter mit ihren beiden Kindern ganz vorn zwischen den Stühlen auf dem kalten Stein. Der Geistliche am Altar sah sie wohl. Seine Stimme zitterte, als er die ersten Worte sprach. Dann tönte sie immer voller und freudiger durch den hohen Raum, und als die Orgel zum Schluß einfiel, sah er mit einem Blick nach oben, als wolle er allen Segen des Himmels auf das gebeugte graue Haupt und die beiden jugendlichen ihm zur Seite herabflehen. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0148"/> Dann zog sie die Freundin mit sich fort, und die vier wundersam verbundenen Menschen gingen durch die stillen Haufen des Volks die Straße hin, die nach der Stadt hinunterführt. Ein lautloser Strom Andächtiger schloß sich ihnen an.</p><lb/> <p>Unten aber, wo der Marktplatz von Menschen wimmelte, öffnete sich ihnen eine breite Gasse. Das Gerücht war ihnen vorausgeeilt, an allen Hausthüren und Fenstern standen die Bürger und Bauern, um die Anna Hirzer zu sehen, die Heilige, die ihren Sohn einherführte, um ihn der ganzen Stadt zu zeigen und Zeugniß abzulegen, daß sie große Sünde gethan und der Barmherzigkeit ihres Gottes bedürftiger sei, als Mancher, der sie heilig gesprochen.</p><lb/> <p>Und eine Stunde später, als die Zehnuhrmesse eingeläutet wurde, kniete die Mutter mit ihren beiden Kindern ganz vorn zwischen den Stühlen auf dem kalten Stein. Der Geistliche am Altar sah sie wohl. Seine Stimme zitterte, als er die ersten Worte sprach. Dann tönte sie immer voller und freudiger durch den hohen Raum, und als die Orgel zum Schluß einfiel, sah er mit einem Blick nach oben, als wolle er allen Segen des Himmels auf das gebeugte graue Haupt und die beiden jugendlichen ihm zur Seite herabflehen.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0148]
Dann zog sie die Freundin mit sich fort, und die vier wundersam verbundenen Menschen gingen durch die stillen Haufen des Volks die Straße hin, die nach der Stadt hinunterführt. Ein lautloser Strom Andächtiger schloß sich ihnen an.
Unten aber, wo der Marktplatz von Menschen wimmelte, öffnete sich ihnen eine breite Gasse. Das Gerücht war ihnen vorausgeeilt, an allen Hausthüren und Fenstern standen die Bürger und Bauern, um die Anna Hirzer zu sehen, die Heilige, die ihren Sohn einherführte, um ihn der ganzen Stadt zu zeigen und Zeugniß abzulegen, daß sie große Sünde gethan und der Barmherzigkeit ihres Gottes bedürftiger sei, als Mancher, der sie heilig gesprochen.
Und eine Stunde später, als die Zehnuhrmesse eingeläutet wurde, kniete die Mutter mit ihren beiden Kindern ganz vorn zwischen den Stühlen auf dem kalten Stein. Der Geistliche am Altar sah sie wohl. Seine Stimme zitterte, als er die ersten Worte sprach. Dann tönte sie immer voller und freudiger durch den hohen Raum, und als die Orgel zum Schluß einfiel, sah er mit einem Blick nach oben, als wolle er allen Segen des Himmels auf das gebeugte graue Haupt und die beiden jugendlichen ihm zur Seite herabflehen.
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