Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.so kniete der Bruder vor Moidi hin und schlang ihr den Schmuck in künstlichen Ringen um Stirne, Hals und Arme. Dabei hatten sie allerlei confuse, andächtige Vorstellungen, und die Geschmückte fühlte eine dunkle Wonne, sich angeschaut und bewundert zu wissen, wohl gar etwas vom Heiligenschein um ihren thörichten Kindskopf zu tragen. Der Bub war noch feierlicher, und wehe dem, der in solchem Augenblick dazu gekommen wäre und seine Huldigung gestört hätte. Der Schwester selbst nahm er es jedes Mal übel, wenn sie plötzlich zu lachen anfing und aus Uebermuth und Langerweile die gelben Kettchen zerriß, daß die Körner eilfertig den Berg hinabrollten, und sie sich nach einem andern Spiel umsehen mußten. Die ersten Jahre ließ sie die Mutter bei all ihren Heimlichkeiten und vertrauten Schleich- und Schlupfwegen ungestört. Als aber der Andree größer wurde und mit seinem scharfen Auge und seinen fragenden Mienen immer verwunderter und vorwurfsvoller ihrem Haß gegenüberstand, suchte sie ihn der Kleinen durch allerlei böse Reden und schwarze Verdächtigungen zu verleiden und ergriff jede Gelegenheit, die Kinder zu trennen, mit gehässiger Schadenfreude. Sie lag ihrem Mann sogar an, den unnützen Buben, der doch keine Lust am Arbeiten habe, zu dem Zehnuhrmesser zu thun, daß der ihm Unterricht gebe und einen Geistlichen aus ihm mache. Da der Knabe einen aufgeweckten Verstand und großen Lerneifer in der Schule so kniete der Bruder vor Moidi hin und schlang ihr den Schmuck in künstlichen Ringen um Stirne, Hals und Arme. Dabei hatten sie allerlei confuse, andächtige Vorstellungen, und die Geschmückte fühlte eine dunkle Wonne, sich angeschaut und bewundert zu wissen, wohl gar etwas vom Heiligenschein um ihren thörichten Kindskopf zu tragen. Der Bub war noch feierlicher, und wehe dem, der in solchem Augenblick dazu gekommen wäre und seine Huldigung gestört hätte. Der Schwester selbst nahm er es jedes Mal übel, wenn sie plötzlich zu lachen anfing und aus Uebermuth und Langerweile die gelben Kettchen zerriß, daß die Körner eilfertig den Berg hinabrollten, und sie sich nach einem andern Spiel umsehen mußten. Die ersten Jahre ließ sie die Mutter bei all ihren Heimlichkeiten und vertrauten Schleich- und Schlupfwegen ungestört. Als aber der Andree größer wurde und mit seinem scharfen Auge und seinen fragenden Mienen immer verwunderter und vorwurfsvoller ihrem Haß gegenüberstand, suchte sie ihn der Kleinen durch allerlei böse Reden und schwarze Verdächtigungen zu verleiden und ergriff jede Gelegenheit, die Kinder zu trennen, mit gehässiger Schadenfreude. Sie lag ihrem Mann sogar an, den unnützen Buben, der doch keine Lust am Arbeiten habe, zu dem Zehnuhrmesser zu thun, daß der ihm Unterricht gebe und einen Geistlichen aus ihm mache. Da der Knabe einen aufgeweckten Verstand und großen Lerneifer in der Schule <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0047"/> so kniete der Bruder vor Moidi hin und schlang ihr den Schmuck in künstlichen Ringen um Stirne, Hals und Arme. Dabei hatten sie allerlei confuse, andächtige Vorstellungen, und die Geschmückte fühlte eine dunkle Wonne, sich angeschaut und bewundert zu wissen, wohl gar etwas vom Heiligenschein um ihren thörichten Kindskopf zu tragen. Der Bub war noch feierlicher, und wehe dem, der in solchem Augenblick dazu gekommen wäre und seine Huldigung gestört hätte. Der Schwester selbst nahm er es jedes Mal übel, wenn sie plötzlich zu lachen anfing und aus Uebermuth und Langerweile die gelben Kettchen zerriß, daß die Körner eilfertig den Berg hinabrollten, und sie sich nach einem andern Spiel umsehen mußten.</p><lb/> <p>Die ersten Jahre ließ sie die Mutter bei all ihren Heimlichkeiten und vertrauten Schleich- und Schlupfwegen ungestört. Als aber der Andree größer wurde und mit seinem scharfen Auge und seinen fragenden Mienen immer verwunderter und vorwurfsvoller ihrem Haß gegenüberstand, suchte sie ihn der Kleinen durch allerlei böse Reden und schwarze Verdächtigungen zu verleiden und ergriff jede Gelegenheit, die Kinder zu trennen, mit gehässiger Schadenfreude. Sie lag ihrem Mann sogar an, den unnützen Buben, der doch keine Lust am Arbeiten habe, zu dem Zehnuhrmesser zu thun, daß der ihm Unterricht gebe und einen Geistlichen aus ihm mache. Da der Knabe einen aufgeweckten Verstand und großen Lerneifer in der Schule<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0047]
so kniete der Bruder vor Moidi hin und schlang ihr den Schmuck in künstlichen Ringen um Stirne, Hals und Arme. Dabei hatten sie allerlei confuse, andächtige Vorstellungen, und die Geschmückte fühlte eine dunkle Wonne, sich angeschaut und bewundert zu wissen, wohl gar etwas vom Heiligenschein um ihren thörichten Kindskopf zu tragen. Der Bub war noch feierlicher, und wehe dem, der in solchem Augenblick dazu gekommen wäre und seine Huldigung gestört hätte. Der Schwester selbst nahm er es jedes Mal übel, wenn sie plötzlich zu lachen anfing und aus Uebermuth und Langerweile die gelben Kettchen zerriß, daß die Körner eilfertig den Berg hinabrollten, und sie sich nach einem andern Spiel umsehen mußten.
Die ersten Jahre ließ sie die Mutter bei all ihren Heimlichkeiten und vertrauten Schleich- und Schlupfwegen ungestört. Als aber der Andree größer wurde und mit seinem scharfen Auge und seinen fragenden Mienen immer verwunderter und vorwurfsvoller ihrem Haß gegenüberstand, suchte sie ihn der Kleinen durch allerlei böse Reden und schwarze Verdächtigungen zu verleiden und ergriff jede Gelegenheit, die Kinder zu trennen, mit gehässiger Schadenfreude. Sie lag ihrem Mann sogar an, den unnützen Buben, der doch keine Lust am Arbeiten habe, zu dem Zehnuhrmesser zu thun, daß der ihm Unterricht gebe und einen Geistlichen aus ihm mache. Da der Knabe einen aufgeweckten Verstand und großen Lerneifer in der Schule
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