Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.nicht besser, als in der weiten Welt, mußte er sich hart durchs Leben schlagen. Und wer weiß, er konnte wohl seinen Vater draußen antreffen; es war in aller Weise das Rathsamste, die Luft zu verändern. Wenn er nur zum ersten Schritt die Kraft erschwungen hätte! Von Neuem wälzte er diese Gedanken, als er heut unter den Reben bei der Schlafenden saß und das Spiel des Sonnenstrahls auf ihrer Stirn bewachte. Die Erschütterung, von der sie nun erquicklich und erinnerungslos ausruhte, zitterte ihm noch durch alle Adern, und der Anblick ihrer unschuldigen Ruhe mehrte nur seine Verwirrung. Er suchte in sich nach dem Muth, jetzt ein feierliches Gelübde zu thun, das ihn forttriebe von hier, wo die natürlichsten Bande sich so unheilvoll verstrickt hatten. Neben ihr begriff er nur zu gut, wie nöthig es sei, zu fliehen. Aber wenn er dann wieder allein war, fühlte er, daß es unmöglich sei. Er rührte die Schlafende nicht an, er hatte seit seinen Kinderjahren nicht mehr gewagt, ihren rothen lachlustigen Mund zu küssen. Aber die Scheu, mit der er sie betrachtete, war mit einer dumpfen, leidenschaftlichen Qual gemischt, und ihr leichter Athem, der sein Gesicht streifte, trieb ihm das Blut heftig zum Herzen. Es ward schon abendlicher draußen, denn der Marlinger Berg im Westen verbirgt die Sonne früh. Die Schläferin ermunterte sich jetzt, richtete sich im Grase auf und sah mit großen Augen umher. Als sie den Bruder neben sich erblickte, lachte sie ihn freundlich nicht besser, als in der weiten Welt, mußte er sich hart durchs Leben schlagen. Und wer weiß, er konnte wohl seinen Vater draußen antreffen; es war in aller Weise das Rathsamste, die Luft zu verändern. Wenn er nur zum ersten Schritt die Kraft erschwungen hätte! Von Neuem wälzte er diese Gedanken, als er heut unter den Reben bei der Schlafenden saß und das Spiel des Sonnenstrahls auf ihrer Stirn bewachte. Die Erschütterung, von der sie nun erquicklich und erinnerungslos ausruhte, zitterte ihm noch durch alle Adern, und der Anblick ihrer unschuldigen Ruhe mehrte nur seine Verwirrung. Er suchte in sich nach dem Muth, jetzt ein feierliches Gelübde zu thun, das ihn forttriebe von hier, wo die natürlichsten Bande sich so unheilvoll verstrickt hatten. Neben ihr begriff er nur zu gut, wie nöthig es sei, zu fliehen. Aber wenn er dann wieder allein war, fühlte er, daß es unmöglich sei. Er rührte die Schlafende nicht an, er hatte seit seinen Kinderjahren nicht mehr gewagt, ihren rothen lachlustigen Mund zu küssen. Aber die Scheu, mit der er sie betrachtete, war mit einer dumpfen, leidenschaftlichen Qual gemischt, und ihr leichter Athem, der sein Gesicht streifte, trieb ihm das Blut heftig zum Herzen. Es ward schon abendlicher draußen, denn der Marlinger Berg im Westen verbirgt die Sonne früh. Die Schläferin ermunterte sich jetzt, richtete sich im Grase auf und sah mit großen Augen umher. Als sie den Bruder neben sich erblickte, lachte sie ihn freundlich <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0054"/> nicht besser, als in der weiten Welt, mußte er sich hart durchs Leben schlagen. Und wer weiß, er konnte wohl seinen Vater draußen antreffen; es war in aller Weise das Rathsamste, die Luft zu verändern. Wenn er nur zum ersten Schritt die Kraft erschwungen hätte!</p><lb/> <p>Von Neuem wälzte er diese Gedanken, als er heut unter den Reben bei der Schlafenden saß und das Spiel des Sonnenstrahls auf ihrer Stirn bewachte. Die Erschütterung, von der sie nun erquicklich und erinnerungslos ausruhte, zitterte ihm noch durch alle Adern, und der Anblick ihrer unschuldigen Ruhe mehrte nur seine Verwirrung. Er suchte in sich nach dem Muth, jetzt ein feierliches Gelübde zu thun, das ihn forttriebe von hier, wo die natürlichsten Bande sich so unheilvoll verstrickt hatten. Neben ihr begriff er nur zu gut, wie nöthig es sei, zu fliehen. Aber wenn er dann wieder allein war, fühlte er, daß es unmöglich sei.</p><lb/> <p>Er rührte die Schlafende nicht an, er hatte seit seinen Kinderjahren nicht mehr gewagt, ihren rothen lachlustigen Mund zu küssen. Aber die Scheu, mit der er sie betrachtete, war mit einer dumpfen, leidenschaftlichen Qual gemischt, und ihr leichter Athem, der sein Gesicht streifte, trieb ihm das Blut heftig zum Herzen.</p><lb/> <p>Es ward schon abendlicher draußen, denn der Marlinger Berg im Westen verbirgt die Sonne früh. Die Schläferin ermunterte sich jetzt, richtete sich im Grase auf und sah mit großen Augen umher. Als sie den Bruder neben sich erblickte, lachte sie ihn freundlich<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0054]
nicht besser, als in der weiten Welt, mußte er sich hart durchs Leben schlagen. Und wer weiß, er konnte wohl seinen Vater draußen antreffen; es war in aller Weise das Rathsamste, die Luft zu verändern. Wenn er nur zum ersten Schritt die Kraft erschwungen hätte!
Von Neuem wälzte er diese Gedanken, als er heut unter den Reben bei der Schlafenden saß und das Spiel des Sonnenstrahls auf ihrer Stirn bewachte. Die Erschütterung, von der sie nun erquicklich und erinnerungslos ausruhte, zitterte ihm noch durch alle Adern, und der Anblick ihrer unschuldigen Ruhe mehrte nur seine Verwirrung. Er suchte in sich nach dem Muth, jetzt ein feierliches Gelübde zu thun, das ihn forttriebe von hier, wo die natürlichsten Bande sich so unheilvoll verstrickt hatten. Neben ihr begriff er nur zu gut, wie nöthig es sei, zu fliehen. Aber wenn er dann wieder allein war, fühlte er, daß es unmöglich sei.
Er rührte die Schlafende nicht an, er hatte seit seinen Kinderjahren nicht mehr gewagt, ihren rothen lachlustigen Mund zu küssen. Aber die Scheu, mit der er sie betrachtete, war mit einer dumpfen, leidenschaftlichen Qual gemischt, und ihr leichter Athem, der sein Gesicht streifte, trieb ihm das Blut heftig zum Herzen.
Es ward schon abendlicher draußen, denn der Marlinger Berg im Westen verbirgt die Sonne früh. Die Schläferin ermunterte sich jetzt, richtete sich im Grase auf und sah mit großen Augen umher. Als sie den Bruder neben sich erblickte, lachte sie ihn freundlich
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/54>, abgerufen am 16.02.2025. |