Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.erkannt, und schnurrte schmeichelnd um ihn herum. Jetzt sprang sie ihm auf den Schooß und rieb ihren weichen Rücken gegen seine Brust. Da stürzten ihm die Thränen mit Gewalt aus den Augen und er begrub das Gesicht in das seidene Fell des alten Lieblings. Als er sich so erleichtert hatte, hob er das Thier sanft von seinen Knieen herab, richtete sich aus und tastete die schwanke Stiege wieder hinunter. Denn draußen schlug es Ein Uhr und er durfte nicht zaudern, wenn er sein Vorhaben ungehindert ins Werk setzen wollte. Er schlug den Weg ein, den sein geistlicher Freund am Morgen hatte gehen wollen, nach dem Schloß hinauf, wo der Hirzer wohnte. Der Zehnuhrmesser war dort besonders gern gesehen; er mochte sich droben in geistlichen Gesprächen mit der Tante Anna oder bei einer Weinprobe verspätet haben und über Nacht geblieben sein. Wenigstens würden sie dort wissen, wohin er sich gewendet habe. So durchschritt der Flüchtling mit freierem Fuße die Laubengasse und das Passeirer Thor und betrat den steinernen Steg über die wilde Passer. Der Regen rieselte jetzt weicher herab, das Gewölk wurde luftiger und der Wind kam lebhaft von Nordost und klärte schon ein Stück des Himmels, daß schwache Mondstrahlen in die schäumenden Wellen der Felsschlucht fielen. Da zur Linken den Berg hinauf, eine Viertelstunde Wegs, und er hätte in das Fenster spähen können, hinter erkannt, und schnurrte schmeichelnd um ihn herum. Jetzt sprang sie ihm auf den Schooß und rieb ihren weichen Rücken gegen seine Brust. Da stürzten ihm die Thränen mit Gewalt aus den Augen und er begrub das Gesicht in das seidene Fell des alten Lieblings. Als er sich so erleichtert hatte, hob er das Thier sanft von seinen Knieen herab, richtete sich aus und tastete die schwanke Stiege wieder hinunter. Denn draußen schlug es Ein Uhr und er durfte nicht zaudern, wenn er sein Vorhaben ungehindert ins Werk setzen wollte. Er schlug den Weg ein, den sein geistlicher Freund am Morgen hatte gehen wollen, nach dem Schloß hinauf, wo der Hirzer wohnte. Der Zehnuhrmesser war dort besonders gern gesehen; er mochte sich droben in geistlichen Gesprächen mit der Tante Anna oder bei einer Weinprobe verspätet haben und über Nacht geblieben sein. Wenigstens würden sie dort wissen, wohin er sich gewendet habe. So durchschritt der Flüchtling mit freierem Fuße die Laubengasse und das Passeirer Thor und betrat den steinernen Steg über die wilde Passer. Der Regen rieselte jetzt weicher herab, das Gewölk wurde luftiger und der Wind kam lebhaft von Nordost und klärte schon ein Stück des Himmels, daß schwache Mondstrahlen in die schäumenden Wellen der Felsschlucht fielen. Da zur Linken den Berg hinauf, eine Viertelstunde Wegs, und er hätte in das Fenster spähen können, hinter <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0066"/> erkannt, und schnurrte schmeichelnd um ihn herum. Jetzt sprang sie ihm auf den Schooß und rieb ihren weichen Rücken gegen seine Brust. Da stürzten ihm die Thränen mit Gewalt aus den Augen und er begrub das Gesicht in das seidene Fell des alten Lieblings. Als er sich so erleichtert hatte, hob er das Thier sanft von seinen Knieen herab, richtete sich aus und tastete die schwanke Stiege wieder hinunter. Denn draußen schlug es Ein Uhr und er durfte nicht zaudern, wenn er sein Vorhaben ungehindert ins Werk setzen wollte.</p><lb/> <p>Er schlug den Weg ein, den sein geistlicher Freund am Morgen hatte gehen wollen, nach dem Schloß hinauf, wo der Hirzer wohnte. Der Zehnuhrmesser war dort besonders gern gesehen; er mochte sich droben in geistlichen Gesprächen mit der Tante Anna oder bei einer Weinprobe verspätet haben und über Nacht geblieben sein. Wenigstens würden sie dort wissen, wohin er sich gewendet habe. So durchschritt der Flüchtling mit freierem Fuße die Laubengasse und das Passeirer Thor und betrat den steinernen Steg über die wilde Passer. Der Regen rieselte jetzt weicher herab, das Gewölk wurde luftiger und der Wind kam lebhaft von Nordost und klärte schon ein Stück des Himmels, daß schwache Mondstrahlen in die schäumenden Wellen der Felsschlucht fielen. Da zur Linken den Berg hinauf, eine Viertelstunde Wegs, und er hätte in das Fenster spähen können, hinter<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0066]
erkannt, und schnurrte schmeichelnd um ihn herum. Jetzt sprang sie ihm auf den Schooß und rieb ihren weichen Rücken gegen seine Brust. Da stürzten ihm die Thränen mit Gewalt aus den Augen und er begrub das Gesicht in das seidene Fell des alten Lieblings. Als er sich so erleichtert hatte, hob er das Thier sanft von seinen Knieen herab, richtete sich aus und tastete die schwanke Stiege wieder hinunter. Denn draußen schlug es Ein Uhr und er durfte nicht zaudern, wenn er sein Vorhaben ungehindert ins Werk setzen wollte.
Er schlug den Weg ein, den sein geistlicher Freund am Morgen hatte gehen wollen, nach dem Schloß hinauf, wo der Hirzer wohnte. Der Zehnuhrmesser war dort besonders gern gesehen; er mochte sich droben in geistlichen Gesprächen mit der Tante Anna oder bei einer Weinprobe verspätet haben und über Nacht geblieben sein. Wenigstens würden sie dort wissen, wohin er sich gewendet habe. So durchschritt der Flüchtling mit freierem Fuße die Laubengasse und das Passeirer Thor und betrat den steinernen Steg über die wilde Passer. Der Regen rieselte jetzt weicher herab, das Gewölk wurde luftiger und der Wind kam lebhaft von Nordost und klärte schon ein Stück des Himmels, daß schwache Mondstrahlen in die schäumenden Wellen der Felsschlucht fielen. Da zur Linken den Berg hinauf, eine Viertelstunde Wegs, und er hätte in das Fenster spähen können, hinter
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/66>, abgerufen am 16.07.2024. |