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Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900.

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D. Hilbert,
der mathematischen Wissenschaft im Allgemeinen und die wich-
tige Rolle, die sie bei der Arbeit des einzelnen Forschers spielen,
ist unleugbar. Solange ein Wissenszweig Ueberfluß an Problemen
bietet, ist er lebenskräftig; Mangel an Problemen bedeutet Ab-
sterben oder Aufhören der selbstständigen Entwickelung. Wie
überhaupt jedes menschliche Unternehmen Ziele verfolgt, so braucht
die mathematische Forschung Probleme. Durch die Lösung von
Problemen stählt sich die Kraft des Forschers; er findet neue
Methoden und Ausblicke, er gewinnt einen weiteren und freieren
Horizont.

Es ist schwierig und oft unmöglich, den Wert eines Problems
im Voraus richtig zu beurteilen; denn schließlich entscheidet der
Gewinn, den die Wissenschaft dem Problem verdankt. Dennoch
können wir fragen, ob es allgemeine Merkmale giebt, die ein
gutes mathematisches Problem kennzeichnen.

Ein alter französischer Mathematiker hat gesagt: Eine mathe-
matische Theorie ist nicht eher als vollkommen anzusehen, als bis
du sie so klar gemacht hast, daß du sie dem ersten Manne er-
klären könntest, den du auf der Straße triffst. Diese Klarheit
und leichte Faßlichkeit, wie sie hier so drastisch für eine mathe-
matische Theorie verlangt wird, möchte ich viel mehr von einem
mathematischen Problem fordern, wenn dasselbe vollkommen sein
soll; denn das Klare und leicht Faßliche zieht uns an, das Ver-
wickelte schreckt uns ab.

Ein mathematisches Problem sei ferner schwierig, damit es
uns reizt, und dennoch nicht völlig unzugänglich, damit es unserer
Anstrengung nicht spotte; es sei uns ein Wahrzeichen auf den
verschlungenen Pfaden zu verborgenen Wahrheiten -- uns her-
nach lohnend mit der Freude über die gelungene Lösung.

Die Mathematiker früherer Jahrhunderte pflegten sich mit
leidenschaftlichem Eifer der Lösung einzelner schwieriger Pro-
bleme hinzugeben; sie kannten den Wert schwieriger Probleme.
Ich erinnere nur an das von Johann Bernoulli gestellte Pro-
blem der Linie des schnellsten Falles
. Die Erfahrung zeige, so
führt Bernoulli in der öffentlichen Ankündigung dieses Problems
aus, daß edle Geister zur Arbeit an der Vermehrung des Wissens
durch nichts mehr angetrieben werden, als wenn man ihnen
schwierige und zugleich nützliche Aufgaben vorlege, und so hoffe
er sich den Dank der mathematischen Welt zu verdienen, wenn
er nach dem Beispiele von Männern, wie Mersenne, Pascal,
Fermat, Viviani
und anderen, welche vor ihm dasselbe thaten,
den ausgezeichneten Analysten seiner Zeit eine Aufgabe vorlege,

D. Hilbert,
der mathematischen Wissenschaft im Allgemeinen und die wich-
tige Rolle, die sie bei der Arbeit des einzelnen Forschers spielen,
ist unleugbar. Solange ein Wissenszweig Ueberfluß an Problemen
bietet, ist er lebenskräftig; Mangel an Problemen bedeutet Ab-
sterben oder Aufhören der selbstständigen Entwickelung. Wie
überhaupt jedes menschliche Unternehmen Ziele verfolgt, so braucht
die mathematische Forschung Probleme. Durch die Lösung von
Problemen stählt sich die Kraft des Forschers; er findet neue
Methoden und Ausblicke, er gewinnt einen weiteren und freieren
Horizont.

Es ist schwierig und oft unmöglich, den Wert eines Problems
im Voraus richtig zu beurteilen; denn schließlich entscheidet der
Gewinn, den die Wissenschaft dem Problem verdankt. Dennoch
können wir fragen, ob es allgemeine Merkmale giebt, die ein
gutes mathematisches Problem kennzeichnen.

Ein alter französischer Mathematiker hat gesagt: Eine mathe-
matische Theorie ist nicht eher als vollkommen anzusehen, als bis
du sie so klar gemacht hast, daß du sie dem ersten Manne er-
klären könntest, den du auf der Straße triffst. Diese Klarheit
und leichte Faßlichkeit, wie sie hier so drastisch für eine mathe-
matische Theorie verlangt wird, möchte ich viel mehr von einem
mathematischen Problem fordern, wenn dasselbe vollkommen sein
soll; denn das Klare und leicht Faßliche zieht uns an, das Ver-
wickelte schreckt uns ab.

Ein mathematisches Problem sei ferner schwierig, damit es
uns reizt, und dennoch nicht völlig unzugänglich, damit es unserer
Anstrengung nicht spotte; es sei uns ein Wahrzeichen auf den
verschlungenen Pfaden zu verborgenen Wahrheiten — uns her-
nach lohnend mit der Freude über die gelungene Lösung.

Die Mathematiker früherer Jahrhunderte pflegten sich mit
leidenschaftlichem Eifer der Lösung einzelner schwieriger Pro-
bleme hinzugeben; sie kannten den Wert schwieriger Probleme.
Ich erinnere nur an das von Johann Bernoulli gestellte Pro-
blem der Linie des schnellsten Falles
. Die Erfahrung zeige, so
führt Bernoulli in der öffentlichen Ankündigung dieses Problems
aus, daß edle Geister zur Arbeit an der Vermehrung des Wissens
durch nichts mehr angetrieben werden, als wenn man ihnen
schwierige und zugleich nützliche Aufgaben vorlege, und so hoffe
er sich den Dank der mathematischen Welt zu verdienen, wenn
er nach dem Beispiele von Männern, wie Mersenne, Pascal,
Fermat, Viviani
und anderen, welche vor ihm dasselbe thaten,
den ausgezeichneten Analysten seiner Zeit eine Aufgabe vorlege,

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[254/0010] D. Hilbert, der mathematischen Wissenschaft im Allgemeinen und die wich- tige Rolle, die sie bei der Arbeit des einzelnen Forschers spielen, ist unleugbar. Solange ein Wissenszweig Ueberfluß an Problemen bietet, ist er lebenskräftig; Mangel an Problemen bedeutet Ab- sterben oder Aufhören der selbstständigen Entwickelung. Wie überhaupt jedes menschliche Unternehmen Ziele verfolgt, so braucht die mathematische Forschung Probleme. Durch die Lösung von Problemen stählt sich die Kraft des Forschers; er findet neue Methoden und Ausblicke, er gewinnt einen weiteren und freieren Horizont. Es ist schwierig und oft unmöglich, den Wert eines Problems im Voraus richtig zu beurteilen; denn schließlich entscheidet der Gewinn, den die Wissenschaft dem Problem verdankt. Dennoch können wir fragen, ob es allgemeine Merkmale giebt, die ein gutes mathematisches Problem kennzeichnen. Ein alter französischer Mathematiker hat gesagt: Eine mathe- matische Theorie ist nicht eher als vollkommen anzusehen, als bis du sie so klar gemacht hast, daß du sie dem ersten Manne er- klären könntest, den du auf der Straße triffst. Diese Klarheit und leichte Faßlichkeit, wie sie hier so drastisch für eine mathe- matische Theorie verlangt wird, möchte ich viel mehr von einem mathematischen Problem fordern, wenn dasselbe vollkommen sein soll; denn das Klare und leicht Faßliche zieht uns an, das Ver- wickelte schreckt uns ab. Ein mathematisches Problem sei ferner schwierig, damit es uns reizt, und dennoch nicht völlig unzugänglich, damit es unserer Anstrengung nicht spotte; es sei uns ein Wahrzeichen auf den verschlungenen Pfaden zu verborgenen Wahrheiten — uns her- nach lohnend mit der Freude über die gelungene Lösung. Die Mathematiker früherer Jahrhunderte pflegten sich mit leidenschaftlichem Eifer der Lösung einzelner schwieriger Pro- bleme hinzugeben; sie kannten den Wert schwieriger Probleme. Ich erinnere nur an das von Johann Bernoulli gestellte Pro- blem der Linie des schnellsten Falles. Die Erfahrung zeige, so führt Bernoulli in der öffentlichen Ankündigung dieses Problems aus, daß edle Geister zur Arbeit an der Vermehrung des Wissens durch nichts mehr angetrieben werden, als wenn man ihnen schwierige und zugleich nützliche Aufgaben vorlege, und so hoffe er sich den Dank der mathematischen Welt zu verdienen, wenn er nach dem Beispiele von Männern, wie Mersenne, Pascal, Fermat, Viviani und anderen, welche vor ihm dasselbe thaten, den ausgezeichneten Analysten seiner Zeit eine Aufgabe vorlege,

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Zitationshilfe: Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900/10>, abgerufen am 21.11.2024.