Hier eine schöne Predigt über die Worte: Der Glaube kommt durch die Predigt, viua vox docet. --
Ein mündlicher Vortrag verräth die Art zu denken. Sie zeigt den Lehrer unangeklei- det. Beym Hören denkt man immer mehr, als beym Lesen. Hören ist auch natürlicher, als lesen. Zwar können auch Bücher er- bauen; allein es ist hier das nemliche Ver- hältniß, wie zwischen Kirchen und Hauß- andacht. --
Man muß beym Lesen die Seele des Buchs suchen, und der Idee nachspüren, welche der Auctor gehabt hat, alsdann hat man das Buch ganz. Zuweilen ist freylich die Seele schwer zu finden, wie bey manchem Menschen sie wahrlich auch schwer zu finden ist. Der Verfaßer selbst würde Mühe haben, die Seel aus seinem Buch herauszurechnen -- indessen hat jedes Buch eine Seele! Et- was hervorstehendes wenigstens, und ge- meinhin pflegt sich hiernach das Uebrige zu bequemen. --
Es scheint in der Welt bey allen Sachen eine Fibel nöthig zu seyn, überall ein gewis- ser Mechanismus, überall eine Schule, eine Akademie. -- Wer nur ein Buch lieset,
vergißt,
Hier eine ſchoͤne Predigt uͤber die Worte: Der Glaube kommt durch die Predigt, viua vox docet. —
Ein muͤndlicher Vortrag verraͤth die Art zu denken. Sie zeigt den Lehrer unangeklei- det. Beym Hoͤren denkt man immer mehr, als beym Leſen. Hoͤren iſt auch natuͤrlicher, als leſen. Zwar koͤnnen auch Buͤcher er- bauen; allein es iſt hier das nemliche Ver- haͤltniß, wie zwiſchen Kirchen und Hauß- andacht. —
Man muß beym Leſen die Seele des Buchs ſuchen, und der Idee nachſpuͤren, welche der Auctor gehabt hat, alsdann hat man das Buch ganz. Zuweilen iſt freylich die Seele ſchwer zu finden, wie bey manchem Menſchen ſie wahrlich auch ſchwer zu finden iſt. Der Verfaßer ſelbſt wuͤrde Muͤhe haben, die Seel aus ſeinem Buch herauszurechnen — indeſſen hat jedes Buch eine Seele! Et- was hervorſtehendes wenigſtens, und ge- meinhin pflegt ſich hiernach das Uebrige zu bequemen. —
Es ſcheint in der Welt bey allen Sachen eine Fibel noͤthig zu ſeyn, uͤberall ein gewiſ- ſer Mechanismus, uͤberall eine Schule, eine Akademie. — Wer nur ein Buch lieſet,
vergißt,
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Hier eine ſchoͤne Predigt uͤber die Worte:
Der Glaube kommt durch die Predigt, viua
vox docet. —
Ein muͤndlicher Vortrag verraͤth die Art
zu denken. Sie zeigt den Lehrer unangeklei-
det. Beym Hoͤren denkt man immer mehr,
als beym Leſen. Hoͤren iſt auch natuͤrlicher,
als leſen. Zwar koͤnnen auch Buͤcher er-
bauen; allein es iſt hier das nemliche Ver-
haͤltniß, wie zwiſchen Kirchen und Hauß-
andacht. —
Man muß beym Leſen die Seele des
Buchs ſuchen, und der Idee nachſpuͤren,
welche der Auctor gehabt hat, alsdann hat
man das Buch ganz. Zuweilen iſt freylich
die Seele ſchwer zu finden, wie bey manchem
Menſchen ſie wahrlich auch ſchwer zu finden
iſt. Der Verfaßer ſelbſt wuͤrde Muͤhe haben,
die Seel aus ſeinem Buch herauszurechnen
— indeſſen hat jedes Buch eine Seele! Et-
was hervorſtehendes wenigſtens, und ge-
meinhin pflegt ſich hiernach das Uebrige zu
bequemen. —
Es ſcheint in der Welt bey allen Sachen
eine Fibel noͤthig zu ſeyn, uͤberall ein gewiſ-
ſer Mechanismus, uͤberall eine Schule, eine
Akademie. — Wer nur ein Buch lieſet,
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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/250>, abgerufen am 22.11.2024.
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