Bey Gott ist das einerley, erwiedert' ich, nur bey den Finken nicht. -- Ich glaube, Herr Candidat, bey unsern meisten guten Handlungen ist ein Hünerey, anstatt eines Finkeney's. --
Lieben Leser! seht da Minchen! Ists möglich, daß der alte Herr so was erzäh- len, und der alte Herr bleiben konnte? --
Minchen gieng einen schönen Morgen ins Feld, und begegnet' einen Jungen mit bey- den Händen in den Haaren und weinen bit- terlich. Er hatt' einen Milchtopf zerbrochen, und befürchtete von seiner Mutter darüber geschlagen zu werden. Sey gutes Muths, sagte Minchen, und nahm ihm die rechte Hand von den Haaren, die linke Hand gab sich von selbst. Er lies sich trösten. Je näher er aber zum Dorfe kam, je langsamer gieng er, und da er das Haus sah, fieng er von neuem an zu weinen, und wolte durch- aus wieder mit der rechten Hand in die Haa- re -- die linke nach. -- Die Mutter des Jungen kam ihnen entgegen, und ihr erstes Wort war: der Topf. Minchen trat vor und sagte: liebe Nachbarin, ich! ich! bin den Topf schuldig. Seht! ich gieng schnell zu, und da war der Topf hin. Meine
Mut-
Bey Gott iſt das einerley, erwiedert’ ich, nur bey den Finken nicht. — Ich glaube, Herr Candidat, bey unſern meiſten guten Handlungen iſt ein Huͤnerey, anſtatt eines Finkeney’s. —
Lieben Leſer! ſeht da Minchen! Iſts moͤglich, daß der alte Herr ſo was erzaͤh- len, und der alte Herr bleiben konnte? —
Minchen gieng einen ſchoͤnen Morgen ins Feld, und begegnet’ einen Jungen mit bey- den Haͤnden in den Haaren und weinen bit- terlich. Er hatt’ einen Milchtopf zerbrochen, und befuͤrchtete von ſeiner Mutter daruͤber geſchlagen zu werden. Sey gutes Muths, ſagte Minchen, und nahm ihm die rechte Hand von den Haaren, die linke Hand gab ſich von ſelbſt. Er lies ſich troͤſten. Je naͤher er aber zum Dorfe kam, je langſamer gieng er, und da er das Haus ſah, fieng er von neuem an zu weinen, und wolte durch- aus wieder mit der rechten Hand in die Haa- re — die linke nach. — Die Mutter des Jungen kam ihnen entgegen, und ihr erſtes Wort war: der Topf. Minchen trat vor und ſagte: liebe Nachbarin, ich! ich! bin den Topf ſchuldig. Seht! ich gieng ſchnell zu, und da war der Topf hin. Meine
Mut-
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Bey Gott iſt das einerley, erwiedert’
ich, nur bey den Finken nicht. — Ich
glaube, Herr Candidat, bey unſern meiſten
guten Handlungen iſt ein Huͤnerey, anſtatt
eines Finkeney’s. —
Lieben Leſer! ſeht da Minchen! Iſts
moͤglich, daß der alte Herr ſo was erzaͤh-
len, und der alte Herr bleiben konnte? —
Minchen gieng einen ſchoͤnen Morgen
ins Feld, und begegnet’ einen Jungen mit bey-
den Haͤnden in den Haaren und weinen bit-
terlich. Er hatt’ einen Milchtopf zerbrochen,
und befuͤrchtete von ſeiner Mutter daruͤber
geſchlagen zu werden. Sey gutes Muths,
ſagte Minchen, und nahm ihm die rechte
Hand von den Haaren, die linke Hand gab
ſich von ſelbſt. Er lies ſich troͤſten. Je
naͤher er aber zum Dorfe kam, je langſamer
gieng er, und da er das Haus ſah, fieng er
von neuem an zu weinen, und wolte durch-
aus wieder mit der rechten Hand in die Haa-
re — die linke nach. — Die Mutter des
Jungen kam ihnen entgegen, und ihr erſtes
Wort war: der Topf. Minchen trat vor
und ſagte: liebe Nachbarin, ich! ich! bin
den Topf ſchuldig. Seht! ich gieng ſchnell
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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/40>, abgerufen am 21.11.2024.
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