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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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ten, sagt, leben wir wohl mehr? -- wir
hoffen doch? Wir zweifeln, wilst du sagen,
und das ist wahrlich kein so glücklicher Zu-
stand! Ein Hektikus, der in der Lebenshof-
nung, wie man sagt, am stärksten seyn solt',
ist er nicht schon immer todt? wenn gleich er
dem Arzt entgegen hustet "heut befind' ich
"mich so leidlich! --" Was er nicht weiß,
ist der Augenblick, da ihn die Welt todt nennt.
-- Eigentlich ist er schon verschieden. --
Was dünkt dich,

frischer Jüngling, dich, blühendes
Mädchen,
was dünkt euch, die ihr dieses leset?
Wenn euch beim Worte: sie sank ein Schau-
der durchs Herz fuhr! denkt dran! so wird auch
euer Tod kommen, so wird er eintreten. --
Darum wachet, wacht, jedes, so dieses Blatt
lieset, alt und jung! Ich beschwör' Euch alle
bey dem Gott, der an den Tag bringen wird,
was im Dunkeln geschah, und der den Rath
der Herzen offenbaren kann, ich beschwör je-
des, so dieses Blatt lieset, heute! heute! --
heute! -- eine gute Handlung im Stillen zu
thun: diese Handlung, wenn es möglich ist,
vor sich selbst zu verbergen -- damit sie im
Sterben euch Luft zuwehe! Heute Freunde!
heute folget mir -- heute noch!

Der

ten, ſagt, leben wir wohl mehr? — wir
hoffen doch? Wir zweifeln, wilſt du ſagen,
und das iſt wahrlich kein ſo gluͤcklicher Zu-
ſtand! Ein Hektikus, der in der Lebenshof-
nung, wie man ſagt, am ſtaͤrkſten ſeyn ſolt’,
iſt er nicht ſchon immer todt? wenn gleich er
dem Arzt entgegen huſtet „heut befind’ ich
„mich ſo leidlich! —” Was er nicht weiß,
iſt der Augenblick, da ihn die Welt todt nennt.
— Eigentlich iſt er ſchon verſchieden. —
Was duͤnkt dich,

friſcher Juͤngling, dich, bluͤhendes
Maͤdchen,
was duͤnkt euch, die ihr dieſes leſet?
Wenn euch beim Worte: ſie ſank ein Schau-
der durchs Herz fuhr! denkt dran! ſo wird auch
euer Tod kommen, ſo wird er eintreten. —
Darum wachet, wacht, jedes, ſo dieſes Blatt
lieſet, alt und jung! Ich beſchwoͤr’ Euch alle
bey dem Gott, der an den Tag bringen wird,
was im Dunkeln geſchah, und der den Rath
der Herzen offenbaren kann, ich beſchwoͤr je-
des, ſo dieſes Blatt lieſet, heute! heute! —
heute! — eine gute Handlung im Stillen zu
thun: dieſe Handlung, wenn es moͤglich iſt,
vor ſich ſelbſt zu verbergen — damit ſie im
Sterben euch Luft zuwehe! Heute Freunde!
heute folget mir — heute noch!

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[413/0423] ten, ſagt, leben wir wohl mehr? — wir hoffen doch? Wir zweifeln, wilſt du ſagen, und das iſt wahrlich kein ſo gluͤcklicher Zu- ſtand! Ein Hektikus, der in der Lebenshof- nung, wie man ſagt, am ſtaͤrkſten ſeyn ſolt’, iſt er nicht ſchon immer todt? wenn gleich er dem Arzt entgegen huſtet „heut befind’ ich „mich ſo leidlich! —” Was er nicht weiß, iſt der Augenblick, da ihn die Welt todt nennt. — Eigentlich iſt er ſchon verſchieden. — Was duͤnkt dich, friſcher Juͤngling, dich, bluͤhendes Maͤdchen, was duͤnkt euch, die ihr dieſes leſet? Wenn euch beim Worte: ſie ſank ein Schau- der durchs Herz fuhr! denkt dran! ſo wird auch euer Tod kommen, ſo wird er eintreten. — Darum wachet, wacht, jedes, ſo dieſes Blatt lieſet, alt und jung! Ich beſchwoͤr’ Euch alle bey dem Gott, der an den Tag bringen wird, was im Dunkeln geſchah, und der den Rath der Herzen offenbaren kann, ich beſchwoͤr je- des, ſo dieſes Blatt lieſet, heute! heute! — heute! — eine gute Handlung im Stillen zu thun: dieſe Handlung, wenn es moͤglich iſt, vor ſich ſelbſt zu verbergen — damit ſie im Sterben euch Luft zuwehe! Heute Freunde! heute folget mir — heute noch! Der

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/423>, abgerufen am 29.05.2024.