Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Jeremiä, den sieben Bußpsalmen, und der
Offenbarung Johannis herauszubringen --
und im Gesangbuch waren die Todten- und
die Abendlieder ihre Sache. "So komm doch
auf einen grünen Fleck!" sagte der Kreuz-
tragende Prediger; allein sie blieb wo sie war.
-- Sie sah in jedem Grün die Linde vor ih-
rem Hause. Es war diesem Baum sein
Taufattest, sein Pflanzjahr, eingeschnitten,
und also wußte sie gewiß, daß sie eines Jahrs
Kinder waren. -- Zuweilen kam die Schwer-
muth der Frau Predigerin bis zu Ausbrü-
chen. Dann waren ihre Begriffe alle durch-
einander. --

Was meynen Sie, lieber Pastor, sagte
Mine, soll ich ihn noch sehen? Ihre Grün-
de hatte sie jetzt all' aufgegeben. Der Prediger
war für; der Arzt wider. Es war betrübt
anzusehen. Sie wollte mit ihrem Arzt drü-
ber sprechen; allein das konnte sie nicht. Sie
hatte kein Wort unmittelbar mit ihm gewech-
selt. Er war sehr harthörig -- und eines
der Hauptübel, die sich bey Minen äußer-
ten, war kurzer Othem und Brustschwach-
heit. Da man dem Arzt Minens Wünsche
ins Ohr schrie; widerrieth er. Nichts, setzt' er
hinzu, was sie angreift! Der erste Blick ih-

res

Jeremiaͤ, den ſieben Bußpſalmen, und der
Offenbarung Johannis herauszubringen —
und im Geſangbuch waren die Todten- und
die Abendlieder ihre Sache. „So komm doch
auf einen gruͤnen Fleck!„ ſagte der Kreuz-
tragende Prediger; allein ſie blieb wo ſie war.
— Sie ſah in jedem Gruͤn die Linde vor ih-
rem Hauſe. Es war dieſem Baum ſein
Taufatteſt, ſein Pflanzjahr, eingeſchnitten,
und alſo wußte ſie gewiß, daß ſie eines Jahrs
Kinder waren. — Zuweilen kam die Schwer-
muth der Frau Predigerin bis zu Ausbruͤ-
chen. Dann waren ihre Begriffe alle durch-
einander. —

Was meynen Sie, lieber Paſtor, ſagte
Mine, ſoll ich ihn noch ſehen? Ihre Gruͤn-
de hatte ſie jetzt all’ aufgegeben. Der Prediger
war fuͤr; der Arzt wider. Es war betruͤbt
anzuſehen. Sie wollte mit ihrem Arzt druͤ-
ber ſprechen; allein das konnte ſie nicht. Sie
hatte kein Wort unmittelbar mit ihm gewech-
ſelt. Er war ſehr harthoͤrig — und eines
der Hauptuͤbel, die ſich bey Minen aͤußer-
ten, war kurzer Othem und Bruſtſchwach-
heit. Da man dem Arzt Minens Wuͤnſche
ins Ohr ſchrie; widerrieth er. Nichts, ſetzt’ er
hinzu, was ſie angreift! Der erſte Blick ih-

res
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0430" n="420"/>
Jeremia&#x0364;, den &#x017F;ieben Bußp&#x017F;almen, und der<lb/>
Offenbarung Johannis herauszubringen &#x2014;<lb/>
und im Ge&#x017F;angbuch waren die Todten- und<lb/>
die Abendlieder ihre Sache. &#x201E;So komm doch<lb/>
auf einen gru&#x0364;nen Fleck!&#x201E; &#x017F;agte der Kreuz-<lb/>
tragende Prediger; allein &#x017F;ie blieb wo &#x017F;ie war.<lb/>
&#x2014; Sie &#x017F;ah in jedem Gru&#x0364;n die Linde vor ih-<lb/>
rem Hau&#x017F;e. Es war die&#x017F;em Baum &#x017F;ein<lb/>
Taufatte&#x017F;t, &#x017F;ein Pflanzjahr, einge&#x017F;chnitten,<lb/>
und al&#x017F;o wußte &#x017F;ie gewiß, daß &#x017F;ie eines Jahrs<lb/>
Kinder waren. &#x2014; Zuweilen kam die Schwer-<lb/>
muth der Frau Predigerin bis zu Ausbru&#x0364;-<lb/>
chen. Dann waren ihre Begriffe alle durch-<lb/>
einander. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Was meynen Sie, lieber Pa&#x017F;tor, &#x017F;agte<lb/>
Mine, &#x017F;oll ich ihn noch &#x017F;ehen? Ihre Gru&#x0364;n-<lb/>
de hatte &#x017F;ie jetzt all&#x2019; aufgegeben. Der Prediger<lb/>
war fu&#x0364;r; der Arzt <hi rendition="#fr">wider.</hi> Es war betru&#x0364;bt<lb/>
anzu&#x017F;ehen. Sie wollte mit ihrem Arzt dru&#x0364;-<lb/>
ber &#x017F;prechen; allein das konnte &#x017F;ie nicht. Sie<lb/>
hatte kein Wort unmittelbar mit ihm gewech-<lb/>
&#x017F;elt. Er war &#x017F;ehr hartho&#x0364;rig &#x2014; und eines<lb/>
der Hauptu&#x0364;bel, die &#x017F;ich bey Minen a&#x0364;ußer-<lb/>
ten, war kurzer Othem und Bru&#x017F;t&#x017F;chwach-<lb/>
heit. Da man dem Arzt Minens Wu&#x0364;n&#x017F;che<lb/>
ins Ohr &#x017F;chrie; widerrieth er. Nichts, &#x017F;etzt&#x2019; er<lb/>
hinzu, was &#x017F;ie angreift! Der er&#x017F;te Blick ih-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">res</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[420/0430] Jeremiaͤ, den ſieben Bußpſalmen, und der Offenbarung Johannis herauszubringen — und im Geſangbuch waren die Todten- und die Abendlieder ihre Sache. „So komm doch auf einen gruͤnen Fleck!„ ſagte der Kreuz- tragende Prediger; allein ſie blieb wo ſie war. — Sie ſah in jedem Gruͤn die Linde vor ih- rem Hauſe. Es war dieſem Baum ſein Taufatteſt, ſein Pflanzjahr, eingeſchnitten, und alſo wußte ſie gewiß, daß ſie eines Jahrs Kinder waren. — Zuweilen kam die Schwer- muth der Frau Predigerin bis zu Ausbruͤ- chen. Dann waren ihre Begriffe alle durch- einander. — Was meynen Sie, lieber Paſtor, ſagte Mine, ſoll ich ihn noch ſehen? Ihre Gruͤn- de hatte ſie jetzt all’ aufgegeben. Der Prediger war fuͤr; der Arzt wider. Es war betruͤbt anzuſehen. Sie wollte mit ihrem Arzt druͤ- ber ſprechen; allein das konnte ſie nicht. Sie hatte kein Wort unmittelbar mit ihm gewech- ſelt. Er war ſehr harthoͤrig — und eines der Hauptuͤbel, die ſich bey Minen aͤußer- ten, war kurzer Othem und Bruſtſchwach- heit. Da man dem Arzt Minens Wuͤnſche ins Ohr ſchrie; widerrieth er. Nichts, ſetzt’ er hinzu, was ſie angreift! Der erſte Blick ih- res

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/430
Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/430>, abgerufen am 22.11.2024.