Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

tung. Gretchen und ich hatten das meiste ein-
gebüßet; war es Wunder, daß unser Schmerz
zuweilen bis aufs memento mori die Sprache
verlohr? daß der Geist das Wort nehmen
mußte? In wenigen Tagen sahen wir etwas
Grünes auf Minens Grabe das Haupt empor
heben, und das war uns so willkommen, als
wenn Minens Leib, diese Gottessaat, schon
aufgienge. Gretchen küßte dies erste Grün
und betaute es mit ihren Thränen. Sie war
neidisch auf Thau und Regen, und wolte diese
Erstlinge durchaus nur mit Thränen aufer-
ziehn. -- -- Mich hatte die Empfindung beym
Anblick dieses ersten Grüns gelähmt. Es war
mir, als säh ich ein Stück von Minen. Am
Kopfende schoß dieses erste Grün hervor. Den
Noah konnte der Oehlzweig so nicht entzücken,
als uns dieser Aufschlag aus einem Gebeinhause.
Entweder war der gute Prediger so voll von
seiner Abhandlung, oder er legt' es geflißent-
lich dazu an, mich zu zerstreuen; denn eh ichs
mich versah, lies sich der Schriftsteller hören.
Ja wohl, er lies sich hören.

Vor dem Begräbnis war dem guten Pre-
diger selbst Minens Andenken, eben so wie uns,
Ein und Alles. Nach der Beerdigung trat
er zwar auch die meiste Zeit unsern Empfin-

dun-

tung. Gretchen und ich hatten das meiſte ein-
gebuͤßet; war es Wunder, daß unſer Schmerz
zuweilen bis aufs memento mori die Sprache
verlohr? daß der Geiſt das Wort nehmen
mußte? In wenigen Tagen ſahen wir etwas
Gruͤnes auf Minens Grabe das Haupt empor
heben, und das war uns ſo willkommen, als
wenn Minens Leib, dieſe Gottesſaat, ſchon
aufgienge. Gretchen kuͤßte dies erſte Gruͤn
und betaute es mit ihren Thraͤnen. Sie war
neidiſch auf Thau und Regen, und wolte dieſe
Erſtlinge durchaus nur mit Thraͤnen aufer-
ziehn. — — Mich hatte die Empfindung beym
Anblick dieſes erſten Gruͤns gelaͤhmt. Es war
mir, als ſaͤh ich ein Stuͤck von Minen. Am
Kopfende ſchoß dieſes erſte Gruͤn hervor. Den
Noah konnte der Oehlzweig ſo nicht entzuͤcken,
als uns dieſer Aufſchlag aus einem Gebeinhauſe.
Entweder war der gute Prediger ſo voll von
ſeiner Abhandlung, oder er legt’ es geflißent-
lich dazu an, mich zu zerſtreuen; denn eh ichs
mich verſah, lies ſich der Schriftſteller hoͤren.
Ja wohl, er lies ſich hoͤren.

Vor dem Begraͤbnis war dem guten Pre-
diger ſelbſt Minens Andenken, eben ſo wie uns,
Ein und Alles. Nach der Beerdigung trat
er zwar auch die meiſte Zeit unſern Empfin-

dun-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0012" n="6"/>
tung. Gretchen und ich hatten das mei&#x017F;te ein-<lb/>
gebu&#x0364;ßet; war es Wunder, daß un&#x017F;er Schmerz<lb/>
zuweilen bis aufs <hi rendition="#aq">memento mori</hi> die Sprache<lb/>
verlohr? daß der Gei&#x017F;t das Wort nehmen<lb/>
mußte? In wenigen Tagen &#x017F;ahen wir etwas<lb/>
Gru&#x0364;nes auf Minens Grabe das Haupt empor<lb/>
heben, und das war uns &#x017F;o willkommen, als<lb/>
wenn Minens Leib, die&#x017F;e Gottes&#x017F;aat, &#x017F;chon<lb/>
aufgienge. Gretchen ku&#x0364;ßte dies er&#x017F;te Gru&#x0364;n<lb/>
und betaute es mit ihren Thra&#x0364;nen. Sie war<lb/>
neidi&#x017F;ch auf Thau und Regen, und wolte die&#x017F;e<lb/>
Er&#x017F;tlinge durchaus nur mit Thra&#x0364;nen aufer-<lb/>
ziehn. &#x2014; &#x2014; Mich hatte die Empfindung beym<lb/>
Anblick die&#x017F;es er&#x017F;ten Gru&#x0364;ns gela&#x0364;hmt. Es war<lb/>
mir, als &#x017F;a&#x0364;h ich ein Stu&#x0364;ck von Minen. Am<lb/>
Kopfende &#x017F;choß die&#x017F;es er&#x017F;te Gru&#x0364;n hervor. Den<lb/>
Noah konnte der Oehlzweig &#x017F;o nicht entzu&#x0364;cken,<lb/>
als uns die&#x017F;er Auf&#x017F;chlag aus einem Gebeinhau&#x017F;e.<lb/>
Entweder war der gute Prediger &#x017F;o voll von<lb/>
&#x017F;einer Abhandlung, oder er legt&#x2019; es geflißent-<lb/>
lich dazu an, mich zu zer&#x017F;treuen; denn eh ichs<lb/>
mich ver&#x017F;ah, lies &#x017F;ich der Schrift&#x017F;teller ho&#x0364;ren.<lb/>
Ja wohl, <hi rendition="#fr">er lies &#x017F;ich ho&#x0364;ren.</hi></p><lb/>
        <p>Vor dem Begra&#x0364;bnis war dem guten Pre-<lb/>
diger &#x017F;elb&#x017F;t Minens Andenken, eben &#x017F;o wie uns,<lb/><hi rendition="#fr">Ein und Alles.</hi> Nach der Beerdigung trat<lb/>
er zwar auch die mei&#x017F;te Zeit un&#x017F;ern Empfin-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">dun-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0012] tung. Gretchen und ich hatten das meiſte ein- gebuͤßet; war es Wunder, daß unſer Schmerz zuweilen bis aufs memento mori die Sprache verlohr? daß der Geiſt das Wort nehmen mußte? In wenigen Tagen ſahen wir etwas Gruͤnes auf Minens Grabe das Haupt empor heben, und das war uns ſo willkommen, als wenn Minens Leib, dieſe Gottesſaat, ſchon aufgienge. Gretchen kuͤßte dies erſte Gruͤn und betaute es mit ihren Thraͤnen. Sie war neidiſch auf Thau und Regen, und wolte dieſe Erſtlinge durchaus nur mit Thraͤnen aufer- ziehn. — — Mich hatte die Empfindung beym Anblick dieſes erſten Gruͤns gelaͤhmt. Es war mir, als ſaͤh ich ein Stuͤck von Minen. Am Kopfende ſchoß dieſes erſte Gruͤn hervor. Den Noah konnte der Oehlzweig ſo nicht entzuͤcken, als uns dieſer Aufſchlag aus einem Gebeinhauſe. Entweder war der gute Prediger ſo voll von ſeiner Abhandlung, oder er legt’ es geflißent- lich dazu an, mich zu zerſtreuen; denn eh ichs mich verſah, lies ſich der Schriftſteller hoͤren. Ja wohl, er lies ſich hoͤren. Vor dem Begraͤbnis war dem guten Pre- diger ſelbſt Minens Andenken, eben ſo wie uns, Ein und Alles. Nach der Beerdigung trat er zwar auch die meiſte Zeit unſern Empfin- dun-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/12
Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/12>, abgerufen am 21.11.2024.