so fingerlang, als das menschliche Leben ist. Eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind vorüber fährt, ist der Mensch nicht da, und seine Stäte kennet man kaum mehr. Worte haben dem Menschengeschlechte einen unersetz- lichen Schaden gethan; am Ende sind Kriege, wo Blut fließt, als wär' es schlecht Wasser, so gut Wortgezänke, als die Dispüte der Ge- lehrten, die sich kein Comma vergeben, wie die Monarchen keine Provinz, und wenns auch nur der Name davon in ihrem Von Got- tes Gnaden Titel wäre. -- O sagt mir, Men- schen! sagt mir, damit ich einlenke, warum ihr so zittert und zaget, wenns ans Sterben geht? Wenn man nur das Wort Tod aus- spricht? Warum ihr im eigentlichen Sinn am Worte: Tode sterbet? Ist es das Leben werth, daß ihr darum siebenzig, und, wenns hoch kommt, achtzig Jahre Leide tragt? Wahrlich, die meisten Menschen leben nicht, sondern betrauren das Leben. Wenn wir todt sind, leben wir nicht, warum sollten wir also nicht bemüht seyn, wenn wir leben, den Tod zu entfernen? Wie braucht ihr das Le- ben, das euch so köstlich dünkt? Lebt ihr denn würklich auch, wenn ihr das Trauerkleid abgelegt habt? Die meisten Menschen wa-
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ſo fingerlang, als das menſchliche Leben iſt. Eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind voruͤber faͤhrt, iſt der Menſch nicht da, und ſeine Staͤte kennet man kaum mehr. Worte haben dem Menſchengeſchlechte einen unerſetz- lichen Schaden gethan; am Ende ſind Kriege, wo Blut fließt, als waͤr’ es ſchlecht Waſſer, ſo gut Wortgezaͤnke, als die Diſpuͤte der Ge- lehrten, die ſich kein Comma vergeben, wie die Monarchen keine Provinz, und wenns auch nur der Name davon in ihrem Von Got- tes Gnaden Titel waͤre. — O ſagt mir, Men- ſchen! ſagt mir, damit ich einlenke, warum ihr ſo zittert und zaget, wenns ans Sterben geht? Wenn man nur das Wort Tod aus- ſpricht? Warum ihr im eigentlichen Sinn am Worte: Tode ſterbet? Iſt es das Leben werth, daß ihr darum ſiebenzig, und, wenns hoch kommt, achtzig Jahre Leide tragt? Wahrlich, die meiſten Menſchen leben nicht, ſondern betrauren das Leben. Wenn wir todt ſind, leben wir nicht, warum ſollten wir alſo nicht bemuͤht ſeyn, wenn wir leben, den Tod zu entfernen? Wie braucht ihr das Le- ben, das euch ſo koͤſtlich duͤnkt? Lebt ihr denn wuͤrklich auch, wenn ihr das Trauerkleid abgelegt habt? Die meiſten Menſchen wa-
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ſo fingerlang, als das menſchliche Leben iſt.
Eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind
voruͤber faͤhrt, iſt der Menſch nicht da, und
ſeine Staͤte kennet man kaum mehr. Worte
haben dem Menſchengeſchlechte einen unerſetz-
lichen Schaden gethan; am Ende ſind Kriege,
wo Blut fließt, als waͤr’ es ſchlecht Waſſer,
ſo gut Wortgezaͤnke, als die Diſpuͤte der Ge-
lehrten, die ſich kein Comma vergeben, wie
die Monarchen keine Provinz, und wenns
auch nur der Name davon in ihrem Von Got-
tes Gnaden Titel waͤre. — O ſagt mir, Men-
ſchen! ſagt mir, damit ich einlenke, warum
ihr ſo zittert und zaget, wenns ans Sterben
geht? Wenn man nur das Wort Tod aus-
ſpricht? Warum ihr im eigentlichen Sinn
am Worte: Tode ſterbet? Iſt es das Leben
werth, daß ihr darum ſiebenzig, und, wenns
hoch kommt, achtzig Jahre Leide tragt?
Wahrlich, die meiſten Menſchen leben nicht,
ſondern betrauren das Leben. Wenn wir
todt ſind, leben wir nicht, warum ſollten wir
alſo nicht bemuͤht ſeyn, wenn wir leben, den
Tod zu entfernen? Wie braucht ihr das Le-
ben, das euch ſo koͤſtlich duͤnkt? Lebt ihr
denn wuͤrklich auch, wenn ihr das Trauerkleid
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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/180>, abgerufen am 24.11.2024.
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