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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781.

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natürlichste, das beste. Ihre Eltern hatten
so gar ihr nicht verboten, Hansen zu sagen,
was geschehen war, und wär' es ihr verboten
gewesen, wie hätte sie sich helfen können?
Lieber Hans, fieng sie an, und nahm ihn
bey der Hand. Ha, dacht' er, Mitleiden!
Wie es mit solchem Mitleiden ist, wissen wir
alle. Solch Mitleiden ist das empfindlichste,
was ich kenne. Nichts thut so weh, als dies.
Mitleiden kann zuweilen der Liebe Anfang
seyn, noch öfter aber ist es das Ende der
Liebe und ein schreckliches Ende! Du bist böse,
daß ich so spät gekommen, fieng Gretchen an.
Betrügerin, dachte Hans, ohne mehr zu sa-
gen und zu thun, als sich den Hut tiefer zu
setzen. Jetzt waren sie so weit, daß sie von
dem väterlichen Gütchen völlig entfernt wa-
ren. Nur zwey Stiere, die sich von der
Heerde verlaufen hatten, waren ihnen nach-
gekommen, worüber sich Gretchen wun-
derte, Hans aber nicht. Eben wollte Gret-
chen ihrem Hansen erzählen, was vorgefal-
len war, und wozu sich ihre Eltern von freyen
Stücken entschlossen hätten, als Hans sie
faßte, sein Mordmesser zog und ihr zehn
Wunden beybrachte. Seine Hand zitterte
und bebte nicht, als wie vorhin, wenn er

aus

natuͤrlichſte, das beſte. Ihre Eltern hatten
ſo gar ihr nicht verboten, Hanſen zu ſagen,
was geſchehen war, und waͤr’ es ihr verboten
geweſen, wie haͤtte ſie ſich helfen koͤnnen?
Lieber Hans, fieng ſie an, und nahm ihn
bey der Hand. Ha, dacht’ er, Mitleiden!
Wie es mit ſolchem Mitleiden iſt, wiſſen wir
alle. Solch Mitleiden iſt das empfindlichſte,
was ich kenne. Nichts thut ſo weh, als dies.
Mitleiden kann zuweilen der Liebe Anfang
ſeyn, noch oͤfter aber iſt es das Ende der
Liebe und ein ſchreckliches Ende! Du biſt boͤſe,
daß ich ſo ſpaͤt gekommen, fieng Gretchen an.
Betruͤgerin, dachte Hans, ohne mehr zu ſa-
gen und zu thun, als ſich den Hut tiefer zu
ſetzen. Jetzt waren ſie ſo weit, daß ſie von
dem vaͤterlichen Guͤtchen voͤllig entfernt wa-
ren. Nur zwey Stiere, die ſich von der
Heerde verlaufen hatten, waren ihnen nach-
gekommen, woruͤber ſich Gretchen wun-
derte, Hans aber nicht. Eben wollte Gret-
chen ihrem Hanſen erzaͤhlen, was vorgefal-
len war, und wozu ſich ihre Eltern von freyen
Stuͤcken entſchloſſen haͤtten, als Hans ſie
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Wunden beybrachte. Seine Hand zitterte
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[290/0296] natuͤrlichſte, das beſte. Ihre Eltern hatten ſo gar ihr nicht verboten, Hanſen zu ſagen, was geſchehen war, und waͤr’ es ihr verboten geweſen, wie haͤtte ſie ſich helfen koͤnnen? Lieber Hans, fieng ſie an, und nahm ihn bey der Hand. Ha, dacht’ er, Mitleiden! Wie es mit ſolchem Mitleiden iſt, wiſſen wir alle. Solch Mitleiden iſt das empfindlichſte, was ich kenne. Nichts thut ſo weh, als dies. Mitleiden kann zuweilen der Liebe Anfang ſeyn, noch oͤfter aber iſt es das Ende der Liebe und ein ſchreckliches Ende! Du biſt boͤſe, daß ich ſo ſpaͤt gekommen, fieng Gretchen an. Betruͤgerin, dachte Hans, ohne mehr zu ſa- gen und zu thun, als ſich den Hut tiefer zu ſetzen. Jetzt waren ſie ſo weit, daß ſie von dem vaͤterlichen Guͤtchen voͤllig entfernt wa- ren. Nur zwey Stiere, die ſich von der Heerde verlaufen hatten, waren ihnen nach- gekommen, woruͤber ſich Gretchen wun- derte, Hans aber nicht. Eben wollte Gret- chen ihrem Hanſen erzaͤhlen, was vorgefal- len war, und wozu ſich ihre Eltern von freyen Stuͤcken entſchloſſen haͤtten, als Hans ſie faßte, ſein Mordmeſſer zog und ihr zehn Wunden beybrachte. Seine Hand zitterte und bebte nicht, als wie vorhin, wenn er aus

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/296>, abgerufen am 23.11.2024.