verdamme keinen, wenn er daran zweifelt, was er nicht selbst gesehen; wenigstens kann ihm ein Zweifel dieser Art keinen Schaden noch Leides thun. Da es der Vernunft erlau- bet ist, jede historische Wahrheit durchzupro- biren; so ist nichts gewisser, als daß die Sache, wenn nicht vor meinen sichtlichen Augen, so doch vor dem Auge meiner Vernunft noch ein- mal vorgehen muß, wenn ich sie gläubig an- nehmen soll --
Es giebt nothwendige Hypothesen, wahr- scheinliche Gewißheiten. Nichts ist ohne Praxis. Bey der Theorie kommt man nicht weit. Sie ist der Buchstab! Die Praxis ist das Leben!
Wolte Gott! es wäre ein Catechismus möglich, den ich sokratisch nennen würde, wo die Beantwortung und Frage, wenn man so sagen soll, in der Sache, nicht in der Person liegen, wo beyde, der Frager und der Ge- fragte, an der Quelle wären und selbst schöpf- ten! Solch ein Buch wäre freylich nicht zum Lesen, zum Auswendig lernen; allein es müß- te ins Herz gebracht werden. Man frage nicht, wie? Sehen und reden ist schon eine halbe That. Ein Leser ist ein Tagdieb. Wir wollen den gemeinen Mann nicht an eine
Stu-
verdamme keinen, wenn er daran zweifelt, was er nicht ſelbſt geſehen; wenigſtens kann ihm ein Zweifel dieſer Art keinen Schaden noch Leides thun. Da es der Vernunft erlau- bet iſt, jede hiſtoriſche Wahrheit durchzupro- biren; ſo iſt nichts gewiſſer, als daß die Sache, wenn nicht vor meinen ſichtlichen Augen, ſo doch vor dem Auge meiner Vernunft noch ein- mal vorgehen muß, wenn ich ſie glaͤubig an- nehmen ſoll —
Es giebt nothwendige Hypotheſen, wahr- ſcheinliche Gewißheiten. Nichts iſt ohne Praxis. Bey der Theorie kommt man nicht weit. Sie iſt der Buchſtab! Die Praxis iſt das Leben!
Wolte Gott! es waͤre ein Catechismus moͤglich, den ich ſokratiſch nennen wuͤrde, wo die Beantwortung und Frage, wenn man ſo ſagen ſoll, in der Sache, nicht in der Perſon liegen, wo beyde, der Frager und der Ge- fragte, an der Quelle waͤren und ſelbſt ſchoͤpf- ten! Solch ein Buch waͤre freylich nicht zum Leſen, zum Auswendig lernen; allein es muͤß- te ins Herz gebracht werden. Man frage nicht, wie? Sehen und reden iſt ſchon eine halbe That. Ein Leſer iſt ein Tagdieb. Wir wollen den gemeinen Mann nicht an eine
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[200/0206]
verdamme keinen, wenn er daran zweifelt,
was er nicht ſelbſt geſehen; wenigſtens kann
ihm ein Zweifel dieſer Art keinen Schaden
noch Leides thun. Da es der Vernunft erlau-
bet iſt, jede hiſtoriſche Wahrheit durchzupro-
biren; ſo iſt nichts gewiſſer, als daß die Sache,
wenn nicht vor meinen ſichtlichen Augen, ſo
doch vor dem Auge meiner Vernunft noch ein-
mal vorgehen muß, wenn ich ſie glaͤubig an-
nehmen ſoll —
Es giebt nothwendige Hypotheſen, wahr-
ſcheinliche Gewißheiten. Nichts iſt ohne
Praxis. Bey der Theorie kommt man nicht
weit. Sie iſt der Buchſtab! Die Praxis iſt
das Leben!
Wolte Gott! es waͤre ein Catechismus
moͤglich, den ich ſokratiſch nennen wuͤrde, wo
die Beantwortung und Frage, wenn man ſo
ſagen ſoll, in der Sache, nicht in der Perſon
liegen, wo beyde, der Frager und der Ge-
fragte, an der Quelle waͤren und ſelbſt ſchoͤpf-
ten! Solch ein Buch waͤre freylich nicht zum
Leſen, zum Auswendig lernen; allein es muͤß-
te ins Herz gebracht werden. Man frage
nicht, wie? Sehen und reden iſt ſchon eine
halbe That. Ein Leſer iſt ein Tagdieb. Wir
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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0302_1781/206>, abgerufen am 27.11.2024.
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