Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779.der Landschaft und ihren Wirkungen. wo ihn die ganze Natur zur Bewunderung auffordert? Es schien, als blieben nachdem Grade, nach welchem wir über die Wohnungen der Menschen erhoben waren, alle niedere und gemeine Empfindungen zurück; als legte die Seele, da sie sich den ätherischen Gegenden näherte, ihre irdischen Neigungen und Leidenschaften ab, und nähme schon etwas von ihrer unveränderlichen Reinigkeit an. Hier, wo man unter einem heitern Himmel steht, und mit gleicher Heiterkeit das Ungewitter und den Sturm unter seinen Füßen entstehen, den Blitz von Wolke zu Wolke fahren, und ihn nebst dem um den Berg herumrollenden Donner den armen Sterblichen unter sich den Untergang drohen sieht: hier betrachtet der Geist die kleinen Stürme und Unge- witter der menschlichen Leidenschaften als Dinge, die seine Aufmerksamkeit nicht ver- dienen. Gewiß schon diese Lage allein ist hinlänglich, Philosophie einzuflößen; und Empedokles hatte guten Grund sie zur Wohnung zu wählen." So weit Bry- done. Ich erinnere mich hiebey eines schimmernden Paradoxon des berühmten Rousseau. *) "Die Lust an entfernten Aussichten," behauptet er, "entstehe aus der Neigung der meisten Menschen, sich nur den Ort wohlgefallen zu lassen, wo sie nicht sind." Allein diese Lust hat doch noch wohl, glaube ich, eine bessere Quelle; sie scheint aus der ursprünglichen Bestimmung unserer Seele zur Erweiterung zu ent- springen; ausgebreitete Prospecte schaffen allezeit der Einbildungskraft die angenehm- ste Beschäftigung; und alles, was ihr freyen Lauf giebt, erweckt Vorstellungen und nährt den Geist. Mannigfaltigkeit der Gegenstände giebt der Aussicht einen eigenen Reiz. was *) Nouvelle Heloise, Partie IV. Lettre XI. **) Reise durch die nördlichen Provinzen von England, 2ter Theil, 17ter Brief. C c 3
der Landſchaft und ihren Wirkungen. wo ihn die ganze Natur zur Bewunderung auffordert? Es ſchien, als blieben nachdem Grade, nach welchem wir uͤber die Wohnungen der Menſchen erhoben waren, alle niedere und gemeine Empfindungen zuruͤck; als legte die Seele, da ſie ſich den aͤtheriſchen Gegenden naͤherte, ihre irdiſchen Neigungen und Leidenſchaften ab, und naͤhme ſchon etwas von ihrer unveraͤnderlichen Reinigkeit an. Hier, wo man unter einem heitern Himmel ſteht, und mit gleicher Heiterkeit das Ungewitter und den Sturm unter ſeinen Fuͤßen entſtehen, den Blitz von Wolke zu Wolke fahren, und ihn nebſt dem um den Berg herumrollenden Donner den armen Sterblichen unter ſich den Untergang drohen ſieht: hier betrachtet der Geiſt die kleinen Stuͤrme und Unge- witter der menſchlichen Leidenſchaften als Dinge, die ſeine Aufmerkſamkeit nicht ver- dienen. Gewiß ſchon dieſe Lage allein iſt hinlaͤnglich, Philoſophie einzufloͤßen; und Empedokles hatte guten Grund ſie zur Wohnung zu waͤhlen.“ So weit Bry- done. Ich erinnere mich hiebey eines ſchimmernden Paradoxon des beruͤhmten Rouſſeau. *) „Die Luſt an entfernten Ausſichten,“ behauptet er, „entſtehe aus der Neigung der meiſten Menſchen, ſich nur den Ort wohlgefallen zu laſſen, wo ſie nicht ſind.“ Allein dieſe Luſt hat doch noch wohl, glaube ich, eine beſſere Quelle; ſie ſcheint aus der urſpruͤnglichen Beſtimmung unſerer Seele zur Erweiterung zu ent- ſpringen; ausgebreitete Proſpecte ſchaffen allezeit der Einbildungskraft die angenehm- ſte Beſchaͤftigung; und alles, was ihr freyen Lauf giebt, erweckt Vorſtellungen und naͤhrt den Geiſt. Mannigfaltigkeit der Gegenſtaͤnde giebt der Ausſicht einen eigenen Reiz. was *) Nouvelle Heloiſe, Partie IV. Lettre XI. **) Reiſe durch die noͤrdlichen Provinzen von England, 2ter Theil, 17ter Brief. C c 3
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der Landſchaft und ihren Wirkungen.
wo ihn die ganze Natur zur Bewunderung auffordert? Es ſchien, als blieben nach
dem Grade, nach welchem wir uͤber die Wohnungen der Menſchen erhoben waren,
alle niedere und gemeine Empfindungen zuruͤck; als legte die Seele, da ſie ſich den
aͤtheriſchen Gegenden naͤherte, ihre irdiſchen Neigungen und Leidenſchaften ab, und
naͤhme ſchon etwas von ihrer unveraͤnderlichen Reinigkeit an. Hier, wo man unter
einem heitern Himmel ſteht, und mit gleicher Heiterkeit das Ungewitter und den
Sturm unter ſeinen Fuͤßen entſtehen, den Blitz von Wolke zu Wolke fahren, und
ihn nebſt dem um den Berg herumrollenden Donner den armen Sterblichen unter ſich
den Untergang drohen ſieht: hier betrachtet der Geiſt die kleinen Stuͤrme und Unge-
witter der menſchlichen Leidenſchaften als Dinge, die ſeine Aufmerkſamkeit nicht ver-
dienen. Gewiß ſchon dieſe Lage allein iſt hinlaͤnglich, Philoſophie einzufloͤßen; und
Empedokles hatte guten Grund ſie zur Wohnung zu waͤhlen.“ So weit Bry-
done. Ich erinnere mich hiebey eines ſchimmernden Paradoxon des beruͤhmten
Rouſſeau. *) „Die Luſt an entfernten Ausſichten,“ behauptet er, „entſtehe aus
der Neigung der meiſten Menſchen, ſich nur den Ort wohlgefallen zu laſſen, wo ſie
nicht ſind.“ Allein dieſe Luſt hat doch noch wohl, glaube ich, eine beſſere Quelle;
ſie ſcheint aus der urſpruͤnglichen Beſtimmung unſerer Seele zur Erweiterung zu ent-
ſpringen; ausgebreitete Proſpecte ſchaffen allezeit der Einbildungskraft die angenehm-
ſte Beſchaͤftigung; und alles, was ihr freyen Lauf giebt, erweckt Vorſtellungen und
naͤhrt den Geiſt.
Mannigfaltigkeit der Gegenſtaͤnde giebt der Ausſicht einen eigenen Reiz.
Young **) ſchildert uns eine der trefflichſten Ausſichten von dieſem Charakter, die
Ausſicht von dem beruͤhmten Winanderſee, dem groͤßten von allen inlaͤndiſchen
Seen in England. „Er hat artige Kruͤmmungen, ſo daß es ſcheint, er beſtuͤnde
aus verſchiedenen Stuͤcken, zumal da hin und wieder darin auch Inſeln liegen. Das
Ufer iſt abwechſelnd: bald ſieht man Felſen und Wald, bald eingezaͤunte Felder und
Doͤrfer, auch einen Marktflecken. Es wird von einem Orte zum andern Handel ge-
trieben, daher es nichts ſeltenes iſt, eine ſegelnde Barke zu ſehen. Den herrlichſten
Proſpect, in welchem man alle ſchoͤne Stellen an dieſem See uͤberſchaut, genießt
man von einem Huͤgel an der oͤſtlichen Seite. Man blickt zuerſt auf ein nach ver-
ſchiedenen Kruͤmmungen ausgeſtrecktes Thal, ohngefaͤhr zwoͤlf (engl.) Meilen lang,
das durchaus eingezaͤunt iſt, und ſich auf verſchiedene Weiſe hebt. Hier dient es
Bergen zum Fuße, dort hat es eine Felſenwand, an jenem Ort ſtoͤßt es an einen fin-
ſtern Wald, an einem andern ſtreckt es ſich in weiten Ausgaͤngen fort, die alles,
was
*) Nouvelle Heloiſe, Partie IV. Lettre XI.
**) Reiſe durch die noͤrdlichen Provinzen von England, 2ter Theil, 17ter Brief.
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