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Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779.

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Zweyter Abschnitt. Von den verschiedenen Charakteren
vor, ziehen sich zurück. Die Breite des Thals ist nirgends dreyßig Schritte lang
die nämliche. Bey dem engen Passe, dessen wir gedacht haben, stoßen die Gipfel
der Felsen beynahe oben zusammen, und man siehet den Himmel zwischen ihnen nur,
wie durch eine kleine Spalte. Gleich neben diesem finstern Abgrunde ist eine breitere
Oeffnung, mehr Licht, mehr Grünes, mehr Freundlichkeit, als irgendwo anders im
Thal. Die Figuren und Stellungen der Felsen aber machen nicht allein ihre ganze
Abwechselung aus. In vielen sind große natürliche Oeffnungen ausgehöhlt, so daß
man durch einige den Himmel sehen kann; andre endigen sich in eine finstre Tiefe;
und durch andre zeigen sich verschiedene noch seltsamere Schwibbögen und unbearbei-
tete Pfeiler, die alle von einander abgesondert sind, und sich einer hinter dem andern
mit dem zwischen ihnen hineinscheinenden Lichte verstecken, bis ein weit hinter ihnen
stehender Fels die Aussicht versperrt. Das Getöse der Wasserfälle im Flusse wird
durch das Echo zwischen den Felsen verdoppelt; man hört oft das Wasser zu einer
Zeit in der Nähe rauschen und in der Ferne brausen; kein anderer Ton aber störet
die tiefe Stille der Gegend. Die einzige Spur von Menschen ist ein versteckter Fuß-
steig, der aber nur wenig ausgetreten ist; wie er denn auch nur selten, und zwar nur
von denen besucht wird, welche die Neugierde reizt, die Wunder zu sehen, die sie von
Dowedale haben erzählen hören. Es scheint in der That mehr ein Aufenthalt für
eingebildete Wesen zu seyn; das Ganze hat das Ansehen einer bezauberten Gegend.
Die beständige Abwechselung der Auftritte; die kurzen Verbindungen; die allgemei-
nen Veränderungen; die Figuren, die sich von allen Seiten zeigen, die so seltsam
sind, als sie ein Zufall entwerfen, so wild, als sie die Natur erzeugen, und so man-
nigfaltig, als sie die Einbildungskraft erfinden kann; die Kräfte, welche angewandt
zu seyn scheinen, um einige Felsen dahin zu setzen, wo sie nunmehr unbeweglich fest
stehen; die Zauberkunst, wodurch andre das Ansehen haben, noch zu keiner besondern
Absicht bestimmt zu seyn; die finstern Höhlen, die erleuchteten Winkel, die flatternden
Schatten und der Glanz des an den Seiten fackelnden oder auf dem Strome zitternden
Lichts; die Einsamkeit und Stille des Orts: indem dieses alles auf einmal die Seele
erfüllt, so werden die Bilder, die natürlicher Weise in ihr bey dem Anblicke dieser
seltsamen und romanhaften Gegend entstehen, beynahe in wirkliche Wesen verwandelt."

Eine andere nicht weniger durch das Romantische merkwürdige Gegend ist das
Thal Lauterbrunn mit seinem berühmten Wasserfall, dem Staubbach, in den
Alpen des Canton Bern. Hier ist die neueste Beschreibung derselben von einem
feinen Beobachter der Gebirge, Lüc, *) worin ich mich aller der Wunderscenen wie-
der erinnere, die ich ehemals selbst zu sehen das Vergnügen gehabt.

"Der
*) Physicalisch-moralische Briefe über die Berge etc. 5ter und 7ter Brief.

Zweyter Abſchnitt. Von den verſchiedenen Charakteren
vor, ziehen ſich zuruͤck. Die Breite des Thals iſt nirgends dreyßig Schritte lang
die naͤmliche. Bey dem engen Paſſe, deſſen wir gedacht haben, ſtoßen die Gipfel
der Felſen beynahe oben zuſammen, und man ſiehet den Himmel zwiſchen ihnen nur,
wie durch eine kleine Spalte. Gleich neben dieſem finſtern Abgrunde iſt eine breitere
Oeffnung, mehr Licht, mehr Gruͤnes, mehr Freundlichkeit, als irgendwo anders im
Thal. Die Figuren und Stellungen der Felſen aber machen nicht allein ihre ganze
Abwechſelung aus. In vielen ſind große natuͤrliche Oeffnungen ausgehoͤhlt, ſo daß
man durch einige den Himmel ſehen kann; andre endigen ſich in eine finſtre Tiefe;
und durch andre zeigen ſich verſchiedene noch ſeltſamere Schwibboͤgen und unbearbei-
tete Pfeiler, die alle von einander abgeſondert ſind, und ſich einer hinter dem andern
mit dem zwiſchen ihnen hineinſcheinenden Lichte verſtecken, bis ein weit hinter ihnen
ſtehender Fels die Ausſicht verſperrt. Das Getoͤſe der Waſſerfaͤlle im Fluſſe wird
durch das Echo zwiſchen den Felſen verdoppelt; man hoͤrt oft das Waſſer zu einer
Zeit in der Naͤhe rauſchen und in der Ferne brauſen; kein anderer Ton aber ſtoͤret
die tiefe Stille der Gegend. Die einzige Spur von Menſchen iſt ein verſteckter Fuß-
ſteig, der aber nur wenig ausgetreten iſt; wie er denn auch nur ſelten, und zwar nur
von denen beſucht wird, welche die Neugierde reizt, die Wunder zu ſehen, die ſie von
Dowedale haben erzaͤhlen hoͤren. Es ſcheint in der That mehr ein Aufenthalt fuͤr
eingebildete Weſen zu ſeyn; das Ganze hat das Anſehen einer bezauberten Gegend.
Die beſtaͤndige Abwechſelung der Auftritte; die kurzen Verbindungen; die allgemei-
nen Veraͤnderungen; die Figuren, die ſich von allen Seiten zeigen, die ſo ſeltſam
ſind, als ſie ein Zufall entwerfen, ſo wild, als ſie die Natur erzeugen, und ſo man-
nigfaltig, als ſie die Einbildungskraft erfinden kann; die Kraͤfte, welche angewandt
zu ſeyn ſcheinen, um einige Felſen dahin zu ſetzen, wo ſie nunmehr unbeweglich feſt
ſtehen; die Zauberkunſt, wodurch andre das Anſehen haben, noch zu keiner beſondern
Abſicht beſtimmt zu ſeyn; die finſtern Hoͤhlen, die erleuchteten Winkel, die flatternden
Schatten und der Glanz des an den Seiten fackelnden oder auf dem Strome zitternden
Lichts; die Einſamkeit und Stille des Orts: indem dieſes alles auf einmal die Seele
erfuͤllt, ſo werden die Bilder, die natuͤrlicher Weiſe in ihr bey dem Anblicke dieſer
ſeltſamen und romanhaften Gegend entſtehen, beynahe in wirkliche Weſen verwandelt.“

Eine andere nicht weniger durch das Romantiſche merkwuͤrdige Gegend iſt das
Thal Lauterbrunn mit ſeinem beruͤhmten Waſſerfall, dem Staubbach, in den
Alpen des Canton Bern. Hier iſt die neueſte Beſchreibung derſelben von einem
feinen Beobachter der Gebirge, Luͤc, *) worin ich mich aller der Wunderſcenen wie-
der erinnere, die ich ehemals ſelbſt zu ſehen das Vergnuͤgen gehabt.

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*) Phyſicaliſch-moraliſche Briefe uͤber die Berge ꝛc. 5ter und 7ter Brief.
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[216/0230] Zweyter Abſchnitt. Von den verſchiedenen Charakteren vor, ziehen ſich zuruͤck. Die Breite des Thals iſt nirgends dreyßig Schritte lang die naͤmliche. Bey dem engen Paſſe, deſſen wir gedacht haben, ſtoßen die Gipfel der Felſen beynahe oben zuſammen, und man ſiehet den Himmel zwiſchen ihnen nur, wie durch eine kleine Spalte. Gleich neben dieſem finſtern Abgrunde iſt eine breitere Oeffnung, mehr Licht, mehr Gruͤnes, mehr Freundlichkeit, als irgendwo anders im Thal. Die Figuren und Stellungen der Felſen aber machen nicht allein ihre ganze Abwechſelung aus. In vielen ſind große natuͤrliche Oeffnungen ausgehoͤhlt, ſo daß man durch einige den Himmel ſehen kann; andre endigen ſich in eine finſtre Tiefe; und durch andre zeigen ſich verſchiedene noch ſeltſamere Schwibboͤgen und unbearbei- tete Pfeiler, die alle von einander abgeſondert ſind, und ſich einer hinter dem andern mit dem zwiſchen ihnen hineinſcheinenden Lichte verſtecken, bis ein weit hinter ihnen ſtehender Fels die Ausſicht verſperrt. Das Getoͤſe der Waſſerfaͤlle im Fluſſe wird durch das Echo zwiſchen den Felſen verdoppelt; man hoͤrt oft das Waſſer zu einer Zeit in der Naͤhe rauſchen und in der Ferne brauſen; kein anderer Ton aber ſtoͤret die tiefe Stille der Gegend. Die einzige Spur von Menſchen iſt ein verſteckter Fuß- ſteig, der aber nur wenig ausgetreten iſt; wie er denn auch nur ſelten, und zwar nur von denen beſucht wird, welche die Neugierde reizt, die Wunder zu ſehen, die ſie von Dowedale haben erzaͤhlen hoͤren. Es ſcheint in der That mehr ein Aufenthalt fuͤr eingebildete Weſen zu ſeyn; das Ganze hat das Anſehen einer bezauberten Gegend. Die beſtaͤndige Abwechſelung der Auftritte; die kurzen Verbindungen; die allgemei- nen Veraͤnderungen; die Figuren, die ſich von allen Seiten zeigen, die ſo ſeltſam ſind, als ſie ein Zufall entwerfen, ſo wild, als ſie die Natur erzeugen, und ſo man- nigfaltig, als ſie die Einbildungskraft erfinden kann; die Kraͤfte, welche angewandt zu ſeyn ſcheinen, um einige Felſen dahin zu ſetzen, wo ſie nunmehr unbeweglich feſt ſtehen; die Zauberkunſt, wodurch andre das Anſehen haben, noch zu keiner beſondern Abſicht beſtimmt zu ſeyn; die finſtern Hoͤhlen, die erleuchteten Winkel, die flatternden Schatten und der Glanz des an den Seiten fackelnden oder auf dem Strome zitternden Lichts; die Einſamkeit und Stille des Orts: indem dieſes alles auf einmal die Seele erfuͤllt, ſo werden die Bilder, die natuͤrlicher Weiſe in ihr bey dem Anblicke dieſer ſeltſamen und romanhaften Gegend entſtehen, beynahe in wirkliche Weſen verwandelt.“ Eine andere nicht weniger durch das Romantiſche merkwuͤrdige Gegend iſt das Thal Lauterbrunn mit ſeinem beruͤhmten Waſſerfall, dem Staubbach, in den Alpen des Canton Bern. Hier iſt die neueſte Beſchreibung derſelben von einem feinen Beobachter der Gebirge, Luͤc, *) worin ich mich aller der Wunderſcenen wie- der erinnere, die ich ehemals ſelbſt zu ſehen das Vergnuͤgen gehabt. „Der *) Phyſicaliſch-moraliſche Briefe uͤber die Berge ꝛc. 5ter und 7ter Brief.

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Zitationshilfe: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst1_1779/230>, abgerufen am 22.11.2024.