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Hobrecht, James: Über die Vorbildung für den Besuch des Polytechnikums. Berlin, 1878.

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wird? Ist die Geschichte der Kunst, der Philosophie, der Religion
nicht eine Naturgeschichte des menschlichen Geistes? Ist die Staaten¬
geschichte, alles, was wir politische Wissenschaft nennen mögen,
etwas Anderes?

Erinnern wir uns doch, dass das Leistungsvermögen unserer
Zeit, welches wahrlich kein geringes ist, ganz und gar gekeimt,
gewachsen und zur Blüthe gebracht worden ist auf dem Grunde
jener Bildung, welche die Kenntniss der Naturgeschichte des mensch¬
lichen Geistes geschaffen hat; was giebt Europa die Herrschaft über
die Welt, als diese Bildung; -- man mag sich berauschen im Ent¬
zücken über japanesische Kunstleistungen und willig zugeben, dass
Leistungen unserer Industrie jenen weit nachstehen, aber ein Atten¬
tat gegen uns und unsere Geschichte ist es, daraus den Schluss zu
ziehen, wir müssten die Zeit, die wir bislang gewohnt waren, auf
die Kenntniss und das Studium der Geschichte des menschlichen
Geistes zu verwenden, mit Versuchen zur Hervorbringung ähnlicher
Formen ausfüllen; unsere Gesammtbildung wird Herr werden über
jene Kunstindustrie, umgekehrt wird es niemals der Fall sein.
So hoch wir auch den Werth einer schönen Vase taxiren wollen,
-- und wahrlich in der Bewunderung von alten Teppichen und Ge¬
wandmustern, Majoliken und Bronzen leisten wir Beachtenswerthes,
-- er kommt dem Werth leidenschaftsloser Weisheit, eines billigen
Urtheils, einer humanen Gesinnung nicht gleich, und hierauf soll
Erziehung und Lehre gerichtet sein, und hierhin soll die Bildung
eines Menschen gerichtet werden, so weit als möglich, ehe er an
seine Ausbildung als Künstler, Ingenieur, als Staatsmann oder
Teppichfabrikant geht.

Wenn wir zurückblicken auf die Entwickelung unseres Volkes
seit den vierziger Jahren, so können wir es dem schnellen Tempo
dieser Entwickelung danken, dass wir Lebende noch die Erfahrung
machen, wie Wege, die unter allgemeinster Begeisterung als zum
glücklichsten Ziele führende erschienen, sich als Irrwege heraus¬
gestellt haben, wie wir nach gutem Wandern auf ihnen neuen Zwei¬
feln, neuen Hindernissen begegneten, wie wir auf manchen zur
Umkehr gezwungen wurden. So waren es die Realschulen, die
reale Ausbildung, welche dem Erziehungswesen in unserem Staate
eine befriedigende Lösung aller Schwierigkeiten geben sollten; statt
eingedenk zu sein dessen, was die Gymnasien unserer Nation ge¬

wird? Ist die Geschichte der Kunst, der Philosophie, der Religion
nicht eine Naturgeschichte des menschlichen Geistes? Ist die Staaten¬
geschichte, alles, was wir politische Wissenschaft nennen mögen,
etwas Anderes?

Erinnern wir uns doch, dass das Leistungsvermögen unserer
Zeit, welches wahrlich kein geringes ist, ganz und gar gekeimt,
gewachsen und zur Blüthe gebracht worden ist auf dem Grunde
jener Bildung, welche die Kenntniss der Naturgeschichte des mensch¬
lichen Geistes geschaffen hat; was giebt Europa die Herrschaft über
die Welt, als diese Bildung; — man mag sich berauschen im Ent¬
zücken über japanesische Kunstleistungen und willig zugeben, dass
Leistungen unserer Industrie jenen weit nachstehen, aber ein Atten¬
tat gegen uns und unsere Geschichte ist es, daraus den Schluss zu
ziehen, wir müssten die Zeit, die wir bislang gewohnt waren, auf
die Kenntniss und das Studium der Geschichte des menschlichen
Geistes zu verwenden, mit Versuchen zur Hervorbringung ähnlicher
Formen ausfüllen; unsere Gesammtbildung wird Herr werden über
jene Kunstindustrie, umgekehrt wird es niemals der Fall sein.
So hoch wir auch den Werth einer schönen Vase taxiren wollen,
— und wahrlich in der Bewunderung von alten Teppichen und Ge¬
wandmustern, Majoliken und Bronzen leisten wir Beachtenswerthes,
— er kommt dem Werth leidenschaftsloser Weisheit, eines billigen
Urtheils, einer humanen Gesinnung nicht gleich, und hierauf soll
Erziehung und Lehre gerichtet sein, und hierhin soll die Bildung
eines Menschen gerichtet werden, so weit als möglich, ehe er an
seine Ausbildung als Künstler, Ingenieur, als Staatsmann oder
Teppichfabrikant geht.

Wenn wir zurückblicken auf die Entwickelung unseres Volkes
seit den vierziger Jahren, so können wir es dem schnellen Tempo
dieser Entwickelung danken, dass wir Lebende noch die Erfahrung
machen, wie Wege, die unter allgemeinster Begeisterung als zum
glücklichsten Ziele führende erschienen, sich als Irrwege heraus¬
gestellt haben, wie wir nach gutem Wandern auf ihnen neuen Zwei¬
feln, neuen Hindernissen begegneten, wie wir auf manchen zur
Umkehr gezwungen wurden. So waren es die Realschulen, die
reale Ausbildung, welche dem Erziehungswesen in unserem Staate
eine befriedigende Lösung aller Schwierigkeiten geben sollten; statt
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[11/0015] wird? Ist die Geschichte der Kunst, der Philosophie, der Religion nicht eine Naturgeschichte des menschlichen Geistes? Ist die Staaten¬ geschichte, alles, was wir politische Wissenschaft nennen mögen, etwas Anderes? Erinnern wir uns doch, dass das Leistungsvermögen unserer Zeit, welches wahrlich kein geringes ist, ganz und gar gekeimt, gewachsen und zur Blüthe gebracht worden ist auf dem Grunde jener Bildung, welche die Kenntniss der Naturgeschichte des mensch¬ lichen Geistes geschaffen hat; was giebt Europa die Herrschaft über die Welt, als diese Bildung; — man mag sich berauschen im Ent¬ zücken über japanesische Kunstleistungen und willig zugeben, dass Leistungen unserer Industrie jenen weit nachstehen, aber ein Atten¬ tat gegen uns und unsere Geschichte ist es, daraus den Schluss zu ziehen, wir müssten die Zeit, die wir bislang gewohnt waren, auf die Kenntniss und das Studium der Geschichte des menschlichen Geistes zu verwenden, mit Versuchen zur Hervorbringung ähnlicher Formen ausfüllen; unsere Gesammtbildung wird Herr werden über jene Kunstindustrie, umgekehrt wird es niemals der Fall sein. So hoch wir auch den Werth einer schönen Vase taxiren wollen, — und wahrlich in der Bewunderung von alten Teppichen und Ge¬ wandmustern, Majoliken und Bronzen leisten wir Beachtenswerthes, — er kommt dem Werth leidenschaftsloser Weisheit, eines billigen Urtheils, einer humanen Gesinnung nicht gleich, und hierauf soll Erziehung und Lehre gerichtet sein, und hierhin soll die Bildung eines Menschen gerichtet werden, so weit als möglich, ehe er an seine Ausbildung als Künstler, Ingenieur, als Staatsmann oder Teppichfabrikant geht. Wenn wir zurückblicken auf die Entwickelung unseres Volkes seit den vierziger Jahren, so können wir es dem schnellen Tempo dieser Entwickelung danken, dass wir Lebende noch die Erfahrung machen, wie Wege, die unter allgemeinster Begeisterung als zum glücklichsten Ziele führende erschienen, sich als Irrwege heraus¬ gestellt haben, wie wir nach gutem Wandern auf ihnen neuen Zwei¬ feln, neuen Hindernissen begegneten, wie wir auf manchen zur Umkehr gezwungen wurden. So waren es die Realschulen, die reale Ausbildung, welche dem Erziehungswesen in unserem Staate eine befriedigende Lösung aller Schwierigkeiten geben sollten; statt eingedenk zu sein dessen, was die Gymnasien unserer Nation ge¬

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Zitationshilfe: Hobrecht, James: Über die Vorbildung für den Besuch des Polytechnikums. Berlin, 1878, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hobrecht_polytechnikum_1878/15>, abgerufen am 27.04.2024.