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Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794.

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passenden Ausdruck gewählt "man siehet sich,
oder man siehet sich viel" ich denke er sagt
schon alles; was man darüber sagen kann:
es bleibt auch gewöhnlich bei dem Sehen,
und wenn es hoch kommt und köstlich gewesen
ist: so hat man sich nach dem Wohlbefinden
erkundigt. Warum sind sich doch die Menschen
so langweilig! Sollte nicht die jetzige Mode-
lektüre auch hierzu etwas beitragen? Die Ur-
theile könnten verschieden seyn, und doch des-
wegen die Wahrheit nicht umstoßen.



Die Einbildungskraft ist die Fertigkeit,
die mannigfaltigsten, grösten, rührendsten u. s. w.
Vorstellungen hervorzubringen. Wo kann sie
daher mehr Nahrung finden, als in der Lektü-
re, wo man gewöhnlich allein ist; und nichts
außer uns dieselbe stöhren, oder ihr eine an-
dere Richtung geben kann! Wenn die Einbil-
dungen den höhern Grad der Lebhaftigkeit ha-
ben: so ist dies Begeisterung. Man frage also
nicht mehr woher die vielen Geister und Begei-
sterte kommen.

Das Gebiet der Phantasie bringt auch ei-
ne Menge dunkeler, vergesellschafteter Partial-

paſſenden Ausdruck gewaͤhlt “man ſiehet ſich,
oder man ſiehet ſich viel” ich denke er ſagt
ſchon alles; was man daruͤber ſagen kann:
es bleibt auch gewoͤhnlich bei dem Sehen,
und wenn es hoch kommt und koͤſtlich geweſen
iſt: ſo hat man ſich nach dem Wohlbefinden
erkundigt. Warum ſind ſich doch die Menſchen
ſo langweilig! Sollte nicht die jetzige Mode-
lektuͤre auch hierzu etwas beitragen? Die Ur-
theile koͤnnten verſchieden ſeyn, und doch des-
wegen die Wahrheit nicht umſtoßen.



Die Einbildungskraft iſt die Fertigkeit,
die mannigfaltigſten, groͤſten, ruͤhrendſten u. ſ. w.
Vorſtellungen hervorzubringen. Wo kann ſie
daher mehr Nahrung finden, als in der Lektuͤ-
re, wo man gewoͤhnlich allein iſt; und nichts
außer uns dieſelbe ſtoͤhren, oder ihr eine an-
dere Richtung geben kann! Wenn die Einbil-
dungen den hoͤhern Grad der Lebhaftigkeit ha-
ben: ſo iſt dies Begeiſterung. Man frage alſo
nicht mehr woher die vielen Geiſter und Begei-
ſterte kommen.

Das Gebiet der Phantaſie bringt auch ei-
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[111/0111] paſſenden Ausdruck gewaͤhlt “man ſiehet ſich, oder man ſiehet ſich viel” ich denke er ſagt ſchon alles; was man daruͤber ſagen kann: es bleibt auch gewoͤhnlich bei dem Sehen, und wenn es hoch kommt und koͤſtlich geweſen iſt: ſo hat man ſich nach dem Wohlbefinden erkundigt. Warum ſind ſich doch die Menſchen ſo langweilig! Sollte nicht die jetzige Mode- lektuͤre auch hierzu etwas beitragen? Die Ur- theile koͤnnten verſchieden ſeyn, und doch des- wegen die Wahrheit nicht umſtoßen. Die Einbildungskraft iſt die Fertigkeit, die mannigfaltigſten, groͤſten, ruͤhrendſten u. ſ. w. Vorſtellungen hervorzubringen. Wo kann ſie daher mehr Nahrung finden, als in der Lektuͤ- re, wo man gewoͤhnlich allein iſt; und nichts außer uns dieſelbe ſtoͤhren, oder ihr eine an- dere Richtung geben kann! Wenn die Einbil- dungen den hoͤhern Grad der Lebhaftigkeit ha- ben: ſo iſt dies Begeiſterung. Man frage alſo nicht mehr woher die vielen Geiſter und Begei- ſterte kommen. Das Gebiet der Phantaſie bringt auch ei- ne Menge dunkeler, vergeſellſchafteter Partial-

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Zitationshilfe: Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoche_lesesucht_1794/111>, abgerufen am 24.11.2024.