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Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794.

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in eine andere zu rücken, was man man| den
Deutschen immer, und mich dünkt mit Recht,
vorgeworfrn hat, genährt wird, bestätigt die
Erfahrung. Die Weiber werden nicht weniger
von der Titelsucht gequält als die Männer, und
wie sehr dadurch die Moralität verliehrt, bedarf
wieder keines Beweises. Gewöhnlich nimmt man
die Fehler der höhern Stände an, modifizirt sie
nach dem seinigen, so gut es gehen will, denn
es gehört mit zum Vornehm thun, das Gu-
te hingegen wird nicht geachtet; oder man ent-
schuldigt sich mit dem Unvermögen. Wie steigt
nicht dadurch die Summe des Unglücks! Wann
werden doch die Menschen anfangen zufrieden zu
seyn mit der Lage worin sie gesetzt wurden!
wahrscheinlich niemals, denn Horazens nemo for-
te sua contentus
behauptet noch immer seinen
Platz. Jetzt füllt nun die Lesesucht die Köpfe
mit Chimären an, die stets die subjektivische La-
ge verhaßt machen, Mißmuth und Unzufrieden-
heit erzeugen, und dadurch das Wohl der Men-
schen und des States vermindern, das in der
Thätigkeit und Ordnung in allen Ständen be-
stehet. Wie sehr wäre zu wünschen, daß die
Politik sich auch einmal diesen Gegenstand mit
gehörigen Einschränkungen zur Beherzigung wähl-
te. Das Problem "ob die Menschen durch die
so genannte Aufklärung, die noch so wenige
Motive für den Willen hergibt, besser oder schlech-

in eine andere zu ruͤcken, was man man| den
Deutſchen immer, und mich duͤnkt mit Recht,
vorgeworfrn hat, genaͤhrt wird, beſtaͤtigt die
Erfahrung. Die Weiber werden nicht weniger
von der Titelſucht gequaͤlt als die Maͤnner, und
wie ſehr dadurch die Moralitaͤt verliehrt, bedarf
wieder keines Beweiſes. Gewoͤhnlich nimmt man
die Fehler der hoͤhern Staͤnde an, modifizirt ſie
nach dem ſeinigen, ſo gut es gehen will, denn
es gehoͤrt mit zum Vornehm thun, das Gu-
te hingegen wird nicht geachtet; oder man ent-
ſchuldigt ſich mit dem Unvermoͤgen. Wie ſteigt
nicht dadurch die Summe des Ungluͤcks! Wann
werden doch die Menſchen anfangen zufrieden zu
ſeyn mit der Lage worin ſie geſetzt wurden!
wahrſcheinlich niemals, denn Horazens nemo for-
te ſua contentus
behauptet noch immer ſeinen
Platz. Jetzt fuͤllt nun die Leſeſucht die Koͤpfe
mit Chimaͤren an, die ſtets die ſubjektiviſche La-
ge verhaßt machen, Mißmuth und Unzufrieden-
heit erzeugen, und dadurch das Wohl der Men-
ſchen und des States vermindern, das in der
Thaͤtigkeit und Ordnung in allen Staͤnden be-
ſtehet. Wie ſehr waͤre zu wuͤnſchen, daß die
Politik ſich auch einmal dieſen Gegenſtand mit
gehoͤrigen Einſchraͤnkungen zur Beherzigung waͤhl-
te. Das Problem “ob die Menſchen durch die
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[139/0139] in eine andere zu ruͤcken, was man man| den Deutſchen immer, und mich duͤnkt mit Recht, vorgeworfrn hat, genaͤhrt wird, beſtaͤtigt die Erfahrung. Die Weiber werden nicht weniger von der Titelſucht gequaͤlt als die Maͤnner, und wie ſehr dadurch die Moralitaͤt verliehrt, bedarf wieder keines Beweiſes. Gewoͤhnlich nimmt man die Fehler der hoͤhern Staͤnde an, modifizirt ſie nach dem ſeinigen, ſo gut es gehen will, denn es gehoͤrt mit zum Vornehm thun, das Gu- te hingegen wird nicht geachtet; oder man ent- ſchuldigt ſich mit dem Unvermoͤgen. Wie ſteigt nicht dadurch die Summe des Ungluͤcks! Wann werden doch die Menſchen anfangen zufrieden zu ſeyn mit der Lage worin ſie geſetzt wurden! wahrſcheinlich niemals, denn Horazens nemo for- te ſua contentus behauptet noch immer ſeinen Platz. Jetzt fuͤllt nun die Leſeſucht die Koͤpfe mit Chimaͤren an, die ſtets die ſubjektiviſche La- ge verhaßt machen, Mißmuth und Unzufrieden- heit erzeugen, und dadurch das Wohl der Men- ſchen und des States vermindern, das in der Thaͤtigkeit und Ordnung in allen Staͤnden be- ſtehet. Wie ſehr waͤre zu wuͤnſchen, daß die Politik ſich auch einmal dieſen Gegenſtand mit gehoͤrigen Einſchraͤnkungen zur Beherzigung waͤhl- te. Das Problem “ob die Menſchen durch die ſo genannte Aufklaͤrung, die noch ſo wenige Motive fuͤr den Willen hergibt, beſſer oder ſchlech-

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Zitationshilfe: Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoche_lesesucht_1794/139>, abgerufen am 17.05.2024.