Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hölderlin, Friedrich: Gedichte. Stuttgart u. a., 1826.

Bild:
<< vorherige Seite
Emilie an Klara.
Wie dank' ich dir, du Liebe, daß du mir
Vertrauen abgewonnen, daß ich dir
Mein still Geheimniß ausgesprochen.
Ich bin nun ruhiger - wie nenn' ichs dir?
Und an die schönen Tage denk' ich, wenn ich oft
Hinaus ging mit dem Bruder, und wir oben
Auf unserm Hügel beieinander saßen,
Und ich den Lieben bei den Händen hielt,
Und mirs gefallen ließ am offnen Feld'
Und an der Straß', und ins Gewölb' hinauf
Des grünen Ahorns staunt', an dem wir lagen.
Ein Sehnen war in mir, doch war ich still.
Es blühten uns der ersten Hoffnung Tage,
Die Tage des Erwachens.
Holde Dämm'rung!
So schön ists, wenn die gütige Natur
Ins Leben lockt ihr Kind. Es singen nur
Den Schlummersang am Abend unsre Mütter.
Sie brauchen nie das Morgenlied zu singen.
Dieß singt die andre Mutter uns, die gute;
Die wunderbare, die uns Lebenslust
In unsern Busen athmet, uns mit süßen
Verheißungen erweckt.
Wie ist mir, Liebe!
Emilie an Klara.
Wie dank' ich dir, du Liebe, daß du mir
Vertrauen abgewonnen, daß ich dir
Mein ſtill Geheimniß ausgeſprochen.
Ich bin nun ruhiger ‒ wie nenn' ichs dir?
Und an die ſchoͤnen Tage denk' ich, wenn ich oft
Hinaus ging mit dem Bruder, und wir oben
Auf unſerm Huͤgel beieinander ſaßen,
Und ich den Lieben bei den Haͤnden hielt,
Und mirs gefallen ließ am offnen Feld'
Und an der Straß', und ins Gewoͤlb' hinauf
Des gruͤnen Ahorns ſtaunt', an dem wir lagen.
Ein Sehnen war in mir, doch war ich ſtill.
Es bluͤhten uns der erſten Hoffnung Tage,
Die Tage des Erwachens.
Holde Daͤmm'rung!
So ſchoͤn iſts, wenn die guͤtige Natur
Ins Leben lockt ihr Kind. Es ſingen nur
Den Schlummerſang am Abend unſre Muͤtter.
Sie brauchen nie das Morgenlied zu ſingen.
Dieß ſingt die andre Mutter uns, die gute;
Die wunderbare, die uns Lebensluſt
In unſern Buſen athmet, uns mit ſuͤßen
Verheißungen erweckt.
Wie iſt mir, Liebe!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0108" n="100"/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g">Emilie an Klara</hi>.</head><lb/>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>Wie dank' ich dir, du Liebe, daß du mir</l><lb/>
              <l>Vertrauen abgewonnen, daß ich dir</l><lb/>
              <l>Mein &#x017F;till Geheimniß ausge&#x017F;prochen.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="2">
              <l>Ich bin nun ruhiger &#x2012; wie nenn' ichs dir?</l><lb/>
              <l>Und an die &#x017F;cho&#x0364;nen Tage denk' ich, wenn ich oft</l><lb/>
              <l>Hinaus ging mit dem Bruder, und wir oben</l><lb/>
              <l>Auf un&#x017F;erm Hu&#x0364;gel beieinander &#x017F;aßen,</l><lb/>
              <l>Und ich den Lieben bei den Ha&#x0364;nden hielt,</l><lb/>
              <l>Und mirs gefallen ließ am offnen Feld'</l><lb/>
              <l>Und an der Straß', und ins Gewo&#x0364;lb' hinauf</l><lb/>
              <l>Des gru&#x0364;nen Ahorns &#x017F;taunt', an dem wir lagen.</l><lb/>
              <l>Ein Sehnen war in mir, doch war ich &#x017F;till.</l><lb/>
              <l>Es blu&#x0364;hten uns der er&#x017F;ten Hoffnung Tage,</l><lb/>
              <l>Die Tage des Erwachens.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="3">
              <l>Holde Da&#x0364;mm'rung!</l><lb/>
              <l>So &#x017F;cho&#x0364;n i&#x017F;ts, wenn die gu&#x0364;tige Natur</l><lb/>
              <l>Ins Leben lockt ihr Kind. Es &#x017F;ingen nur</l><lb/>
              <l>Den Schlummer&#x017F;ang am Abend un&#x017F;re Mu&#x0364;tter.</l><lb/>
              <l>Sie brauchen nie das Morgenlied zu &#x017F;ingen.</l><lb/>
              <l>Dieß &#x017F;ingt die andre Mutter uns, die gute;</l><lb/>
              <l>Die wunderbare, die uns Lebenslu&#x017F;t</l><lb/>
              <l>In un&#x017F;ern Bu&#x017F;en athmet, uns mit &#x017F;u&#x0364;ßen</l><lb/>
              <l>Verheißungen erweckt.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="4">
              <l>Wie i&#x017F;t mir, Liebe!</l><lb/>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[100/0108] Emilie an Klara. Wie dank' ich dir, du Liebe, daß du mir Vertrauen abgewonnen, daß ich dir Mein ſtill Geheimniß ausgeſprochen. Ich bin nun ruhiger ‒ wie nenn' ichs dir? Und an die ſchoͤnen Tage denk' ich, wenn ich oft Hinaus ging mit dem Bruder, und wir oben Auf unſerm Huͤgel beieinander ſaßen, Und ich den Lieben bei den Haͤnden hielt, Und mirs gefallen ließ am offnen Feld' Und an der Straß', und ins Gewoͤlb' hinauf Des gruͤnen Ahorns ſtaunt', an dem wir lagen. Ein Sehnen war in mir, doch war ich ſtill. Es bluͤhten uns der erſten Hoffnung Tage, Die Tage des Erwachens. Holde Daͤmm'rung! So ſchoͤn iſts, wenn die guͤtige Natur Ins Leben lockt ihr Kind. Es ſingen nur Den Schlummerſang am Abend unſre Muͤtter. Sie brauchen nie das Morgenlied zu ſingen. Dieß ſingt die andre Mutter uns, die gute; Die wunderbare, die uns Lebensluſt In unſern Buſen athmet, uns mit ſuͤßen Verheißungen erweckt. Wie iſt mir, Liebe!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hoelderlin_gedichte_1826
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hoelderlin_gedichte_1826/108
Zitationshilfe: Hölderlin, Friedrich: Gedichte. Stuttgart u. a., 1826, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoelderlin_gedichte_1826/108>, abgerufen am 24.11.2024.