ließ sie sich ganz dem trostlosesten Schmerz und bald waren es wild und schauerlich tönende, bald tiefklagende Romanzen, mit denen sie das Kloster erfüllte, denn überall hörte man ihre durchdringende Glockenstimme. Es begab sich, daß wir einst um Mitternacht im Chor der Kir¬ che versammelt waren und die Hora nach jener wundervollen heiligen Weise absangen, die der hohe Meister des Gesanges, Ferreras, uns lehrte. Ich bemerkte im Schein der Lichter Zulema in der offnen Pforte des Chors stehend und mit ernstem Blick still und andächtig hineinschauend; als wir Paarweise daherziehend den Chor ver¬ ließen, kniete Zulema im Gange unfern eines Marienbildes. Den andern Tag sang sie keine Romanze, sondern blieb still und in sich gekehrt. Bald versuchte sie auf der tiefgestimmten Zither die Akkorde jenes Chorals, den wir in der Kirche gesungen, und dann fing sie an leise leise zu sin¬ gen, ja selbst die Worte unsers Gesanges zu ver¬ suchen, die sie freilich wunderlich wie mit gebun¬
ließ ſie ſich ganz dem troſtloſeſten Schmerz und bald waren es wild und ſchauerlich toͤnende, bald tiefklagende Romanzen, mit denen ſie das Kloſter erfuͤllte, denn uͤberall hoͤrte man ihre durchdringende Glockenſtimme. Es begab ſich, daß wir einſt um Mitternacht im Chor der Kir¬ che verſammelt waren und die Hora nach jener wundervollen heiligen Weiſe abſangen, die der hohe Meiſter des Geſanges, Ferreras, uns lehrte. Ich bemerkte im Schein der Lichter Zulema in der offnen Pforte des Chors ſtehend und mit ernſtem Blick ſtill und andaͤchtig hineinſchauend; als wir Paarweiſe daherziehend den Chor ver¬ ließen, kniete Zulema im Gange unfern eines Marienbildes. Den andern Tag ſang ſie keine Romanze, ſondern blieb ſtill und in ſich gekehrt. Bald verſuchte ſie auf der tiefgeſtimmten Zither die Akkorde jenes Chorals, den wir in der Kirche geſungen, und dann fing ſie an leiſe leiſe zu ſin¬ gen, ja ſelbſt die Worte unſers Geſanges zu ver¬ ſuchen, die ſie freilich wunderlich wie mit gebun¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0310"n="302"/>
ließ ſie ſich ganz dem troſtloſeſten Schmerz und<lb/>
bald waren es wild und ſchauerlich toͤnende,<lb/>
bald tiefklagende Romanzen, mit denen ſie das<lb/>
Kloſter erfuͤllte, denn uͤberall hoͤrte man ihre<lb/>
durchdringende Glockenſtimme. Es begab ſich,<lb/>
daß wir einſt um Mitternacht im Chor der Kir¬<lb/>
che verſammelt waren und die Hora nach jener<lb/>
wundervollen heiligen Weiſe abſangen, die der hohe<lb/>
Meiſter des Geſanges, <hirendition="#g">Ferreras</hi>, uns lehrte.<lb/>
Ich bemerkte im Schein der Lichter <hirendition="#g">Zulema</hi><lb/>
in der offnen Pforte des Chors ſtehend und mit<lb/>
ernſtem Blick ſtill und andaͤchtig hineinſchauend;<lb/>
als wir Paarweiſe daherziehend den Chor ver¬<lb/>
ließen, kniete <hirendition="#g">Zulema</hi> im Gange unfern eines<lb/>
Marienbildes. Den andern Tag ſang ſie keine<lb/>
Romanze, ſondern blieb ſtill und in ſich gekehrt.<lb/>
Bald verſuchte ſie auf der tiefgeſtimmten Zither<lb/>
die Akkorde jenes Chorals, den wir in der Kirche<lb/>
geſungen, und dann fing ſie an leiſe leiſe zu ſin¬<lb/>
gen, ja ſelbſt die Worte unſers Geſanges zu ver¬<lb/>ſuchen, die ſie freilich wunderlich wie mit gebun¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[302/0310]
ließ ſie ſich ganz dem troſtloſeſten Schmerz und
bald waren es wild und ſchauerlich toͤnende,
bald tiefklagende Romanzen, mit denen ſie das
Kloſter erfuͤllte, denn uͤberall hoͤrte man ihre
durchdringende Glockenſtimme. Es begab ſich,
daß wir einſt um Mitternacht im Chor der Kir¬
che verſammelt waren und die Hora nach jener
wundervollen heiligen Weiſe abſangen, die der hohe
Meiſter des Geſanges, Ferreras, uns lehrte.
Ich bemerkte im Schein der Lichter Zulema
in der offnen Pforte des Chors ſtehend und mit
ernſtem Blick ſtill und andaͤchtig hineinſchauend;
als wir Paarweiſe daherziehend den Chor ver¬
ließen, kniete Zulema im Gange unfern eines
Marienbildes. Den andern Tag ſang ſie keine
Romanze, ſondern blieb ſtill und in ſich gekehrt.
Bald verſuchte ſie auf der tiefgeſtimmten Zither
die Akkorde jenes Chorals, den wir in der Kirche
geſungen, und dann fing ſie an leiſe leiſe zu ſin¬
gen, ja ſelbſt die Worte unſers Geſanges zu ver¬
ſuchen, die ſie freilich wunderlich wie mit gebun¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
[Hoffmann, E. T. A.]: Nachtstücke. Bd. 1. Berlin, 1817, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke01_1817/310>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.