hielt es auch jeder im Hause für die Buße be¬ gangener Sünde, erweckte doch zu gleicher Zeit inniges Mitleiden und tiefe Ehrfurcht, wozu denn auch der Adel ihrer Gestalt, die siegende Anmuth jeder ihrer Bewegungen nicht wenig beitrug. Was aber diesen Gefühlen für die fremde Heilige etwas schauerliches beimischte, war der Umstand, daß sie die Schleier durchaus nicht ablegte, so daß keiner ihr Gesicht zu erschauen vermochte. Nie¬ mand kam in ihre Nähe, als der Alte und der weibliche Theil seiner Familie, und diese, niemals aus dem Städtchen gekommen, konnten unmöglich durch das Wiedererkennen eines Gesichts, das sie vorher nicht gesehen, dem Geheimniß auf die Spur kommen. Wozu also die Verhüllung? -- Die geschäftige Fantasie der Weiber erfand bald ein grauliches Mährchen. Ein fürchterliches Ab¬ zeichen (so lautete die Fabel), die Spur der Teu¬ felskralle, hatte das Gesicht der Fremden gräßlich verzerrt, und darum die dicken Schleier. Der Alte hatte Mühe dem Gewäsche zu steuern und
hielt es auch jeder im Hauſe fuͤr die Buße be¬ gangener Suͤnde, erweckte doch zu gleicher Zeit inniges Mitleiden und tiefe Ehrfurcht, wozu denn auch der Adel ihrer Geſtalt, die ſiegende Anmuth jeder ihrer Bewegungen nicht wenig beitrug. Was aber dieſen Gefuͤhlen fuͤr die fremde Heilige etwas ſchauerliches beimiſchte, war der Umſtand, daß ſie die Schleier durchaus nicht ablegte, ſo daß keiner ihr Geſicht zu erſchauen vermochte. Nie¬ mand kam in ihre Naͤhe, als der Alte und der weibliche Theil ſeiner Familie, und dieſe, niemals aus dem Staͤdtchen gekommen, konnten unmoͤglich durch das Wiedererkennen eines Geſichts, das ſie vorher nicht geſehen, dem Geheimniß auf die Spur kommen. Wozu alſo die Verhuͤllung? — Die geſchaͤftige Fantaſie der Weiber erfand bald ein grauliches Maͤhrchen. Ein fuͤrchterliches Ab¬ zeichen (ſo lautete die Fabel), die Spur der Teu¬ felskralle, hatte das Geſicht der Fremden graͤßlich verzerrt, und darum die dicken Schleier. Der Alte hatte Muͤhe dem Gewaͤſche zu ſteuern und
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hielt es auch jeder im Hauſe fuͤr die Buße be¬
gangener Suͤnde, erweckte doch zu gleicher Zeit
inniges Mitleiden und tiefe Ehrfurcht, wozu denn
auch der Adel ihrer Geſtalt, die ſiegende Anmuth
jeder ihrer Bewegungen nicht wenig beitrug. Was
aber dieſen Gefuͤhlen fuͤr die fremde Heilige etwas
ſchauerliches beimiſchte, war der Umſtand, daß
ſie die Schleier durchaus nicht ablegte, ſo daß
keiner ihr Geſicht zu erſchauen vermochte. Nie¬
mand kam in ihre Naͤhe, als der Alte und der
weibliche Theil ſeiner Familie, und dieſe, niemals
aus dem Staͤdtchen gekommen, konnten unmoͤglich
durch das Wiedererkennen eines Geſichts, das
ſie vorher nicht geſehen, dem Geheimniß auf
die Spur kommen. Wozu alſo die Verhuͤllung? —
Die geſchaͤftige Fantaſie der Weiber erfand bald
ein grauliches Maͤhrchen. Ein fuͤrchterliches Ab¬
zeichen (ſo lautete die Fabel), die Spur der Teu¬
felskralle, hatte das Geſicht der Fremden graͤßlich
verzerrt, und darum die dicken Schleier. Der
Alte hatte Muͤhe dem Gewaͤſche zu ſteuern und
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[Hoffmann, E. T. A.]: Nachtstücke. Bd. 2. Berlin, 1817, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke02_1817/272>, abgerufen am 24.11.2024.
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