den Himmel mit dem Goldgelb, was eine Ahn- dung des Herbstes hervorbringt, eine Ahndung der Verwandlung durch Tod zum Leben. Dieses Licht scheint zu einer Heiterkeit zu stimmen, welche das Persönliche aus unsern Ansichten ent- fernt, ich sehe dann alles um mich wie zum letzten Male, also mit unendlicher Liebe und theilneh- mender Freude. -- Wenn man durch die Haupt- straßen von Amsterdam fährt, wenn man zwi- schen den zierlichen Häusern und Anlagen auf die- sen Kanälen gleitet, sollte man wohl denken, es gäb keine Armuth in Holland. Aber wenn man eine Weile bei den Landungsplätzen still hält, be- sonders vor den größern Städten, wird diese Täu- schung gräßlich gestört. Nie sah ich so abgehun- gerte, zerlumpte Menschen, hörte nie keinen so vor Jammer und Ungeduld zusammengesetzten Bettelton, wie bei dem Zollhause vor Amsterdam. Der Ton war der nächste Ausdruck neben Straßen- raub oder Selbstmord. Weiber, deren Blöße das Mitleid mehr wie die Sittsamkeit empörten, Män- ner, aus deren struppigen Bart gelbe Zähne her- vorragten, unter denen sich die blauen Lippen grinsend zurückzogen. Ich litt peinlich bei dem Anblick -- man möchte auf sein Angesicht fallen
den Himmel mit dem Goldgelb, was eine Ahn- dung des Herbſtes hervorbringt, eine Ahndung der Verwandlung durch Tod zum Leben. Dieſes Licht ſcheint zu einer Heiterkeit zu ſtimmen, welche das Perſoͤnliche aus unſern Anſichten ent- fernt, ich ſehe dann alles um mich wie zum letzten Male, alſo mit unendlicher Liebe und theilneh- mender Freude. — Wenn man durch die Haupt- ſtraßen von Amſterdam faͤhrt, wenn man zwi- ſchen den zierlichen Haͤuſern und Anlagen auf die- ſen Kanaͤlen gleitet, ſollte man wohl denken, es gaͤb keine Armuth in Holland. Aber wenn man eine Weile bei den Landungsplaͤtzen ſtill haͤlt, be- ſonders vor den groͤßern Staͤdten, wird dieſe Taͤu- ſchung graͤßlich geſtoͤrt. Nie ſah ich ſo abgehun- gerte, zerlumpte Menſchen, hoͤrte nie keinen ſo vor Jammer und Ungeduld zuſammengeſetzten Bettelton, wie bei dem Zollhauſe vor Amſterdam. Der Ton war der naͤchſte Ausdruck neben Straßen- raub oder Selbſtmord. Weiber, deren Bloͤße das Mitleid mehr wie die Sittſamkeit empoͤrten, Maͤn- ner, aus deren ſtruppigen Bart gelbe Zaͤhne her- vorragten, unter denen ſich die blauen Lippen grinſend zuruͤckzogen. Ich litt peinlich bei dem Anblick — man moͤchte auf ſein Angeſicht fallen
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0262"n="248"/>
den Himmel mit dem Goldgelb, was eine Ahn-<lb/>
dung des Herbſtes hervorbringt, eine Ahndung<lb/>
der Verwandlung durch Tod zum Leben. Dieſes<lb/>
Licht ſcheint zu einer Heiterkeit zu ſtimmen,<lb/>
welche das Perſoͤnliche aus unſern Anſichten ent-<lb/>
fernt, ich ſehe dann alles um mich wie zum letzten<lb/>
Male, alſo mit unendlicher Liebe und theilneh-<lb/>
mender Freude. — Wenn man durch die Haupt-<lb/>ſtraßen von Amſterdam faͤhrt, wenn man zwi-<lb/>ſchen den zierlichen Haͤuſern und Anlagen auf die-<lb/>ſen Kanaͤlen gleitet, ſollte man wohl denken, es<lb/>
gaͤb keine Armuth in Holland. Aber wenn man<lb/>
eine Weile bei den Landungsplaͤtzen ſtill haͤlt, be-<lb/>ſonders vor den groͤßern Staͤdten, wird dieſe Taͤu-<lb/>ſchung graͤßlich geſtoͤrt. Nie ſah ich ſo abgehun-<lb/>
gerte, zerlumpte Menſchen, hoͤrte nie keinen ſo<lb/>
vor Jammer und Ungeduld zuſammengeſetzten<lb/>
Bettelton, wie bei dem Zollhauſe vor Amſterdam.<lb/>
Der Ton war der naͤchſte Ausdruck neben Straßen-<lb/>
raub oder Selbſtmord. Weiber, deren Bloͤße das<lb/>
Mitleid mehr wie die Sittſamkeit empoͤrten, Maͤn-<lb/>
ner, aus deren ſtruppigen Bart gelbe Zaͤhne her-<lb/>
vorragten, unter denen ſich die blauen Lippen<lb/>
grinſend zuruͤckzogen. Ich litt peinlich bei dem<lb/>
Anblick — man moͤchte auf ſein Angeſicht fallen<lb/></p></div></body></text></TEI>
[248/0262]
den Himmel mit dem Goldgelb, was eine Ahn-
dung des Herbſtes hervorbringt, eine Ahndung
der Verwandlung durch Tod zum Leben. Dieſes
Licht ſcheint zu einer Heiterkeit zu ſtimmen,
welche das Perſoͤnliche aus unſern Anſichten ent-
fernt, ich ſehe dann alles um mich wie zum letzten
Male, alſo mit unendlicher Liebe und theilneh-
mender Freude. — Wenn man durch die Haupt-
ſtraßen von Amſterdam faͤhrt, wenn man zwi-
ſchen den zierlichen Haͤuſern und Anlagen auf die-
ſen Kanaͤlen gleitet, ſollte man wohl denken, es
gaͤb keine Armuth in Holland. Aber wenn man
eine Weile bei den Landungsplaͤtzen ſtill haͤlt, be-
ſonders vor den groͤßern Staͤdten, wird dieſe Taͤu-
ſchung graͤßlich geſtoͤrt. Nie ſah ich ſo abgehun-
gerte, zerlumpte Menſchen, hoͤrte nie keinen ſo
vor Jammer und Ungeduld zuſammengeſetzten
Bettelton, wie bei dem Zollhauſe vor Amſterdam.
Der Ton war der naͤchſte Ausdruck neben Straßen-
raub oder Selbſtmord. Weiber, deren Bloͤße das
Mitleid mehr wie die Sittſamkeit empoͤrten, Maͤn-
ner, aus deren ſtruppigen Bart gelbe Zaͤhne her-
vorragten, unter denen ſich die blauen Lippen
grinſend zuruͤckzogen. Ich litt peinlich bei dem
Anblick — man moͤchte auf ſein Angeſicht fallen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huber_reisejournal_1811/262>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.