Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.gingen Ueberlieferungen und geschichtliches Bewußtsein des Dieser und noch mancher andern Vorteile entbehren die gingen Ueberlieferungen und geſchichtliches Bewußtſein des Dieſer und noch mancher andern Vorteile entbehren die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0224" n="208"/> gingen Ueberlieferungen und geſchichtliches Bewußtſein des<lb/> Volkes vom Mutterlande auf die Kolonieen über, erbten dort<lb/> von Geſchlecht zu Geſchlecht fort und äußerten fortwährend<lb/> den beſten Einfluß auf Geiſt, Sitten und Politik der An-<lb/> ſiedler. Das Klima in jenen erſten Niederlaſſungen über dem<lb/> Meere war vom Klima des Mutterlandes nicht ſehr verſchieden.<lb/> Die Griechen in Kleinaſien und auf Sizilien entfremdeten<lb/> ſich nicht den Einwohnern von Argos, Athen und Korinth,<lb/> von denen abzuſtammen ihr Stolz war. Große Ueberein-<lb/> ſtimmung in Sitte und Brauch that das Ihrige dazu, eine<lb/> Verbindung zu befeſtigen, die ſich auf religiöſe und politiſche<lb/> Intereſſen gründete. Häufig opferten die Kolonieen die Erſt-<lb/> linge ihrer Ernten in den Tempeln der Mutterſtädte, und<lb/> wenn durch einen unheilvollen Zufall das heilige Feuer auf<lb/> den Altären von Heſtia erloſchen war, ſo ſchickte man von<lb/> hinten in Jonien nach Griechenland und ließ es aus den<lb/> Prytaneen wieder holen. Ueberall, in Cyrenaica wie an den<lb/> Ufern des Sees Mäotis, erhielten ſich die alten Ueberliefe-<lb/> rungen des Mutterlandes. Andere Erinnerungen, die gleich<lb/> mächtig zur Einbildungskraft ſprechen, hafteten an den Ko-<lb/> lonieen ſelbſt. Sie hatten ihre heiligen Haine, ihre Schutz-<lb/> gottheiten, ihren lokalen Mythenkreis; ſie hatten, was den<lb/> Dichtungen der früheſten Zeitalter Leben und Dauer verleiht,<lb/> ihre Dichter, deren Ruhm ſelbſt über das Mutterland Glanz<lb/> verbreitete.</p><lb/> <p>Dieſer und noch mancher andern Vorteile entbehren die<lb/> heutigen Anſiedelungen. Die meiſten wurden in einem Land-<lb/> ſtrich gegründet, wo Klima, Naturprodukte, der Anblick des<lb/> Himmels und der Landſchaft ganz anders ſind als in Europa.<lb/> Wenn auch der Anſiedler Bergen, Flüſſen, Thälern Namen<lb/> beilegt, die an vaterländiſche Landſchaften erinnern, dieſe Namen<lb/> verlieren bald ihren Reiz und ſagen den nachkommenden Ge-<lb/> ſchlechtern nichts mehr. In fremdartiger Naturumgebung er-<lb/> wachſen aus neuen Bedürfniſſen andere Sitten; die geſchicht-<lb/> lichen Erinnerungen verblaſſen allmählich, und die ſich erhalten,<lb/> knüpfen ſich fortan gleich Phantaſiegebilden weder an einen<lb/> beſtimmten Ort, noch an eine beſtimmte Zeit. Der Ruhm<lb/> Don Pelagios und des Cid Campeador iſt bis in die Ge-<lb/> birge und Wälder Amerikas gedrungen; dem Volke kommen je<lb/> zuweilen dieſe glorreichen Namen auf die Zunge, aber ſie<lb/> ſchweben ſeiner Seele vor wie Weſen aus einer idealen Welt,<lb/> aus dem Dämmer der Fabelzeit.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [208/0224]
gingen Ueberlieferungen und geſchichtliches Bewußtſein des
Volkes vom Mutterlande auf die Kolonieen über, erbten dort
von Geſchlecht zu Geſchlecht fort und äußerten fortwährend
den beſten Einfluß auf Geiſt, Sitten und Politik der An-
ſiedler. Das Klima in jenen erſten Niederlaſſungen über dem
Meere war vom Klima des Mutterlandes nicht ſehr verſchieden.
Die Griechen in Kleinaſien und auf Sizilien entfremdeten
ſich nicht den Einwohnern von Argos, Athen und Korinth,
von denen abzuſtammen ihr Stolz war. Große Ueberein-
ſtimmung in Sitte und Brauch that das Ihrige dazu, eine
Verbindung zu befeſtigen, die ſich auf religiöſe und politiſche
Intereſſen gründete. Häufig opferten die Kolonieen die Erſt-
linge ihrer Ernten in den Tempeln der Mutterſtädte, und
wenn durch einen unheilvollen Zufall das heilige Feuer auf
den Altären von Heſtia erloſchen war, ſo ſchickte man von
hinten in Jonien nach Griechenland und ließ es aus den
Prytaneen wieder holen. Ueberall, in Cyrenaica wie an den
Ufern des Sees Mäotis, erhielten ſich die alten Ueberliefe-
rungen des Mutterlandes. Andere Erinnerungen, die gleich
mächtig zur Einbildungskraft ſprechen, hafteten an den Ko-
lonieen ſelbſt. Sie hatten ihre heiligen Haine, ihre Schutz-
gottheiten, ihren lokalen Mythenkreis; ſie hatten, was den
Dichtungen der früheſten Zeitalter Leben und Dauer verleiht,
ihre Dichter, deren Ruhm ſelbſt über das Mutterland Glanz
verbreitete.
Dieſer und noch mancher andern Vorteile entbehren die
heutigen Anſiedelungen. Die meiſten wurden in einem Land-
ſtrich gegründet, wo Klima, Naturprodukte, der Anblick des
Himmels und der Landſchaft ganz anders ſind als in Europa.
Wenn auch der Anſiedler Bergen, Flüſſen, Thälern Namen
beilegt, die an vaterländiſche Landſchaften erinnern, dieſe Namen
verlieren bald ihren Reiz und ſagen den nachkommenden Ge-
ſchlechtern nichts mehr. In fremdartiger Naturumgebung er-
wachſen aus neuen Bedürfniſſen andere Sitten; die geſchicht-
lichen Erinnerungen verblaſſen allmählich, und die ſich erhalten,
knüpfen ſich fortan gleich Phantaſiegebilden weder an einen
beſtimmten Ort, noch an eine beſtimmte Zeit. Der Ruhm
Don Pelagios und des Cid Campeador iſt bis in die Ge-
birge und Wälder Amerikas gedrungen; dem Volke kommen je
zuweilen dieſe glorreichen Namen auf die Zunge, aber ſie
ſchweben ſeiner Seele vor wie Weſen aus einer idealen Welt,
aus dem Dämmer der Fabelzeit.
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