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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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Die Missionäre hatten am Eingange der Höhle ein Mahl
zurichten lassen. Pisang- und Vijaoblätter, die seidenartig
glänzen, dienten uns nach Landessitte als Tischtuch. Wir
wurden trefflich bewirtet, sogar mit geschichtlichen Erinnerungen,
die so selten sind in Ländern, wo die Geschlechter einander
ablösten, ohne eine Spur ihres Daseins zu hinterlassen.
Wohlgefällig erzählten uns unsere Wirte, die ersten Ordens-
leute, die in diese Berge gekommen, um das kleine Dorf
Santa Maria zu gründen, haben einen Monat lang in der
Höhle hier gelebt und auf einem Steine bei Fackellicht das
heilige Meßopfer gefeiert. Die Missionäre hatten am ein-
samen Orte Schutz gefunden vor der Verfolgung eines Häupt-
lings der Tuapocan, der am Ufer des Rio Caripe sein Lager
aufgeschlagen.

So viel wir uns auch bei den Einwohnern von Caripe,
Cumanacoa und Cariaco erkundigten, wir hörten nie, daß
man in der Höhle des Guacharo je Knochen von Fleisch-
fressern oder Knochenbreccien mit Pflanzenfressern gefunden
hätte, wie sie in den Höhlen Deutschlands und Ungarns oder
in den Spalten des Kalksteines bei Gibraltar vorkommen.
Die fossilen Knochen der Megatherien, Elefanten und Masto-
donten, welche Reisende aus Südamerika mitgebracht, gehören
sämtlich dem aufgeschwemmten Lande in den Thälern und auf
hohen Plateaus an. Mit Ausnahme des Megalonyx, 1 eines
Faultieres von der Größe eines Ochsen, das Jefferson be-
schrieben, kenne ich bis jetzt auch nicht einen Fall, daß in
einer Höhle der Neuen Welt ein Tierskelett gefunden worden
wäre. Daß diese zoologische Erscheinung hier so ausnehmend
selten ist, erscheint weniger auffallend, wenn man bedenkt,
daß es in Frankreich, England und Italien auch eine Menge
Höhlen gibt, in denen man nie eine Spur von fossilen Knochen
entdeckt hat.

Die interessanteste Beobachtung, welche der Physiker in
den Höhlen anstellen kann, ist die genaue Bestimmung ihrer
Temperatur. Die Höhle von Caripe liegt ungefähr unter
10° 10" der Breite, also mitten im heißen Erdgürtel und
986 m über dem Spiegel des Wassers im Meerbusen von
Cariaco. Wir fanden im September die Temperatur der Luft

1 Der Megalonyx wurde in den Höhlen von Green-Briar in
Virginien gefunden, 6750 km vom Megatherium, dem er sehr nahe
steht und das so groß war wie ein Nashorn.

Die Miſſionäre hatten am Eingange der Höhle ein Mahl
zurichten laſſen. Piſang- und Vijaoblätter, die ſeidenartig
glänzen, dienten uns nach Landesſitte als Tiſchtuch. Wir
wurden trefflich bewirtet, ſogar mit geſchichtlichen Erinnerungen,
die ſo ſelten ſind in Ländern, wo die Geſchlechter einander
ablöſten, ohne eine Spur ihres Daſeins zu hinterlaſſen.
Wohlgefällig erzählten uns unſere Wirte, die erſten Ordens-
leute, die in dieſe Berge gekommen, um das kleine Dorf
Santa Maria zu gründen, haben einen Monat lang in der
Höhle hier gelebt und auf einem Steine bei Fackellicht das
heilige Meßopfer gefeiert. Die Miſſionäre hatten am ein-
ſamen Orte Schutz gefunden vor der Verfolgung eines Häupt-
lings der Tuapocan, der am Ufer des Rio Caripe ſein Lager
aufgeſchlagen.

So viel wir uns auch bei den Einwohnern von Caripe,
Cumanacoa und Cariaco erkundigten, wir hörten nie, daß
man in der Höhle des Guacharo je Knochen von Fleiſch-
freſſern oder Knochenbreccien mit Pflanzenfreſſern gefunden
hätte, wie ſie in den Höhlen Deutſchlands und Ungarns oder
in den Spalten des Kalkſteines bei Gibraltar vorkommen.
Die foſſilen Knochen der Megatherien, Elefanten und Maſto-
donten, welche Reiſende aus Südamerika mitgebracht, gehören
ſämtlich dem aufgeſchwemmten Lande in den Thälern und auf
hohen Plateaus an. Mit Ausnahme des Megalonyx, 1 eines
Faultieres von der Größe eines Ochſen, das Jefferſon be-
ſchrieben, kenne ich bis jetzt auch nicht einen Fall, daß in
einer Höhle der Neuen Welt ein Tierſkelett gefunden worden
wäre. Daß dieſe zoologiſche Erſcheinung hier ſo ausnehmend
ſelten iſt, erſcheint weniger auffallend, wenn man bedenkt,
daß es in Frankreich, England und Italien auch eine Menge
Höhlen gibt, in denen man nie eine Spur von foſſilen Knochen
entdeckt hat.

Die intereſſanteſte Beobachtung, welche der Phyſiker in
den Höhlen anſtellen kann, iſt die genaue Beſtimmung ihrer
Temperatur. Die Höhle von Caripe liegt ungefähr unter
10° 10″ der Breite, alſo mitten im heißen Erdgürtel und
986 m über dem Spiegel des Waſſers im Meerbuſen von
Cariaco. Wir fanden im September die Temperatur der Luft

1 Der Megalonyx wurde in den Höhlen von Green-Briar in
Virginien gefunden, 6750 km vom Megatherium, dem er ſehr nahe
ſteht und das ſo groß war wie ein Nashorn.
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[272/0288] Die Miſſionäre hatten am Eingange der Höhle ein Mahl zurichten laſſen. Piſang- und Vijaoblätter, die ſeidenartig glänzen, dienten uns nach Landesſitte als Tiſchtuch. Wir wurden trefflich bewirtet, ſogar mit geſchichtlichen Erinnerungen, die ſo ſelten ſind in Ländern, wo die Geſchlechter einander ablöſten, ohne eine Spur ihres Daſeins zu hinterlaſſen. Wohlgefällig erzählten uns unſere Wirte, die erſten Ordens- leute, die in dieſe Berge gekommen, um das kleine Dorf Santa Maria zu gründen, haben einen Monat lang in der Höhle hier gelebt und auf einem Steine bei Fackellicht das heilige Meßopfer gefeiert. Die Miſſionäre hatten am ein- ſamen Orte Schutz gefunden vor der Verfolgung eines Häupt- lings der Tuapocan, der am Ufer des Rio Caripe ſein Lager aufgeſchlagen. So viel wir uns auch bei den Einwohnern von Caripe, Cumanacoa und Cariaco erkundigten, wir hörten nie, daß man in der Höhle des Guacharo je Knochen von Fleiſch- freſſern oder Knochenbreccien mit Pflanzenfreſſern gefunden hätte, wie ſie in den Höhlen Deutſchlands und Ungarns oder in den Spalten des Kalkſteines bei Gibraltar vorkommen. Die foſſilen Knochen der Megatherien, Elefanten und Maſto- donten, welche Reiſende aus Südamerika mitgebracht, gehören ſämtlich dem aufgeſchwemmten Lande in den Thälern und auf hohen Plateaus an. Mit Ausnahme des Megalonyx, 1 eines Faultieres von der Größe eines Ochſen, das Jefferſon be- ſchrieben, kenne ich bis jetzt auch nicht einen Fall, daß in einer Höhle der Neuen Welt ein Tierſkelett gefunden worden wäre. Daß dieſe zoologiſche Erſcheinung hier ſo ausnehmend ſelten iſt, erſcheint weniger auffallend, wenn man bedenkt, daß es in Frankreich, England und Italien auch eine Menge Höhlen gibt, in denen man nie eine Spur von foſſilen Knochen entdeckt hat. Die intereſſanteſte Beobachtung, welche der Phyſiker in den Höhlen anſtellen kann, iſt die genaue Beſtimmung ihrer Temperatur. Die Höhle von Caripe liegt ungefähr unter 10° 10″ der Breite, alſo mitten im heißen Erdgürtel und 986 m über dem Spiegel des Waſſers im Meerbuſen von Cariaco. Wir fanden im September die Temperatur der Luft 1 Der Megalonyx wurde in den Höhlen von Green-Briar in Virginien gefunden, 6750 km vom Megatherium, dem er ſehr nahe ſteht und das ſo groß war wie ein Nashorn.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/288>, abgerufen am 25.11.2024.