Da es zwischen den Wendekreisen fast keine Dämmerung gibt, sieht man sich auf einmal aus dem hellsten Tageslicht in Finsternis versetzt. Der Mond stand über dem Horizont; seine Scheibe ward zuweilen durch dicke Wolken bedeckt, die ein heftiger kalter Wind über den Himmel jagte. Die steilen, mit gelbem trockenem Grase bewachsenen Abhänge lagen bald im Schatten, bald wurden sie auf einmal wieder beleuchtet und erschienen dann als Abgründe, in deren Tiefe man nieder- sah. Wir gingen in einer Reihe hintereinander; man suchte sich mit den Händen zu halten, um nicht zu fallen und den Berg hinabzurollen. Von den Führern, welche unsere In- strumente trugen, fiel einer um den anderen ab, um auf dem Berge zu übernachten. Unter denen, die bei uns blieben, war ein Congoneger, dessen Gewandtheit ich bewunderte; er trug einen großen Inklinationskompaß auf dem Kopf und hielt die Last trotz der ungemeinen Steilheit des Abhanges beständig im Gleichgewicht. Der Nebel im Thale war nach und nach verschwunden. Die zerstreuten Lichter, die wir tief unter uns sahen, täuschten uns in doppelter Beziehung; einmal schien der Abhang noch gefährlicher, als er wirklich war, und dann meinten wir in den sechs Stunden, in denen wir beständig abwärts gingen, den Höfen am Fuße der Silla immer gleich nahe zu sein. Wir hörten ganz deutlich Menschenstimmen und die schrillen Töne der Guitarren. Der Schall pflanzt sich von unten nach oben meist so gut fort, daß man in einem Luftballon bisweilen in 5850 m Höhe die Hunde bellen hört.1
Erst um 10 Uhr abends kamen wir äußerst ermüdet und durstig im Thale an. Wir waren fünfzehn Stunden lang fast beständig auf den Beinen gewesen; der rauhe Felsboden und die dürren harten Grasstoppeln hatten uns die Fußsohlen zerrissen, denn wir hatten die Stiefeln ausziehen müssen, weil die Sohlen zu glatt geworden waren. An Abhängen, wo weder Sträucher, noch holzige Kräuter wachsen, an denen man sich mit den Händen halten kann, kommt man barfuß sicherer herab. Um Weg abzuschneiden, führte man uns von der Puerta zum Hofe Gallegos über einen Fußpfad, der zu einem Wasserstück, El Tanque genannt, führt. Man verfehlte den Fußpfad, und auf diesem letzten Wegstück, wo es am aller- steilsten abwärts ging, kamen wir in die Nähe der Schlucht
1 So Gay-Lussac bei seiner Luftfahrt am 16. September 1803.
Da es zwiſchen den Wendekreiſen faſt keine Dämmerung gibt, ſieht man ſich auf einmal aus dem hellſten Tageslicht in Finſternis verſetzt. Der Mond ſtand über dem Horizont; ſeine Scheibe ward zuweilen durch dicke Wolken bedeckt, die ein heftiger kalter Wind über den Himmel jagte. Die ſteilen, mit gelbem trockenem Graſe bewachſenen Abhänge lagen bald im Schatten, bald wurden ſie auf einmal wieder beleuchtet und erſchienen dann als Abgründe, in deren Tiefe man nieder- ſah. Wir gingen in einer Reihe hintereinander; man ſuchte ſich mit den Händen zu halten, um nicht zu fallen und den Berg hinabzurollen. Von den Führern, welche unſere In- ſtrumente trugen, fiel einer um den anderen ab, um auf dem Berge zu übernachten. Unter denen, die bei uns blieben, war ein Congoneger, deſſen Gewandtheit ich bewunderte; er trug einen großen Inklinationskompaß auf dem Kopf und hielt die Laſt trotz der ungemeinen Steilheit des Abhanges beſtändig im Gleichgewicht. Der Nebel im Thale war nach und nach verſchwunden. Die zerſtreuten Lichter, die wir tief unter uns ſahen, täuſchten uns in doppelter Beziehung; einmal ſchien der Abhang noch gefährlicher, als er wirklich war, und dann meinten wir in den ſechs Stunden, in denen wir beſtändig abwärts gingen, den Höfen am Fuße der Silla immer gleich nahe zu ſein. Wir hörten ganz deutlich Menſchenſtimmen und die ſchrillen Töne der Guitarren. Der Schall pflanzt ſich von unten nach oben meiſt ſo gut fort, daß man in einem Luftballon bisweilen in 5850 m Höhe die Hunde bellen hört.1
Erſt um 10 Uhr abends kamen wir äußerſt ermüdet und durſtig im Thale an. Wir waren fünfzehn Stunden lang faſt beſtändig auf den Beinen geweſen; der rauhe Felsboden und die dürren harten Grasſtoppeln hatten uns die Fußſohlen zerriſſen, denn wir hatten die Stiefeln ausziehen müſſen, weil die Sohlen zu glatt geworden waren. An Abhängen, wo weder Sträucher, noch holzige Kräuter wachſen, an denen man ſich mit den Händen halten kann, kommt man barfuß ſicherer herab. Um Weg abzuſchneiden, führte man uns von der Puerta zum Hofe Gallegos über einen Fußpfad, der zu einem Waſſerſtück, El Tanque genannt, führt. Man verfehlte den Fußpfad, und auf dieſem letzten Wegſtück, wo es am aller- ſteilſten abwärts ging, kamen wir in die Nähe der Schlucht
1 So Gay-Luſſac bei ſeiner Luftfahrt am 16. September 1803.
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Da es zwiſchen den Wendekreiſen faſt keine Dämmerung
gibt, ſieht man ſich auf einmal aus dem hellſten Tageslicht
in Finſternis verſetzt. Der Mond ſtand über dem Horizont;
ſeine Scheibe ward zuweilen durch dicke Wolken bedeckt, die
ein heftiger kalter Wind über den Himmel jagte. Die ſteilen,
mit gelbem trockenem Graſe bewachſenen Abhänge lagen bald
im Schatten, bald wurden ſie auf einmal wieder beleuchtet
und erſchienen dann als Abgründe, in deren Tiefe man nieder-
ſah. Wir gingen in einer Reihe hintereinander; man ſuchte
ſich mit den Händen zu halten, um nicht zu fallen und den
Berg hinabzurollen. Von den Führern, welche unſere In-
ſtrumente trugen, fiel einer um den anderen ab, um auf dem
Berge zu übernachten. Unter denen, die bei uns blieben, war
ein Congoneger, deſſen Gewandtheit ich bewunderte; er trug
einen großen Inklinationskompaß auf dem Kopf und hielt
die Laſt trotz der ungemeinen Steilheit des Abhanges beſtändig
im Gleichgewicht. Der Nebel im Thale war nach und nach
verſchwunden. Die zerſtreuten Lichter, die wir tief unter uns
ſahen, täuſchten uns in doppelter Beziehung; einmal ſchien
der Abhang noch gefährlicher, als er wirklich war, und dann
meinten wir in den ſechs Stunden, in denen wir beſtändig
abwärts gingen, den Höfen am Fuße der Silla immer gleich
nahe zu ſein. Wir hörten ganz deutlich Menſchenſtimmen
und die ſchrillen Töne der Guitarren. Der Schall pflanzt
ſich von unten nach oben meiſt ſo gut fort, daß man in einem
Luftballon bisweilen in 5850 m Höhe die Hunde bellen hört. 1
Erſt um 10 Uhr abends kamen wir äußerſt ermüdet und
durſtig im Thale an. Wir waren fünfzehn Stunden lang
faſt beſtändig auf den Beinen geweſen; der rauhe Felsboden
und die dürren harten Grasſtoppeln hatten uns die Fußſohlen
zerriſſen, denn wir hatten die Stiefeln ausziehen müſſen, weil
die Sohlen zu glatt geworden waren. An Abhängen, wo
weder Sträucher, noch holzige Kräuter wachſen, an denen man
ſich mit den Händen halten kann, kommt man barfuß ſicherer
herab. Um Weg abzuſchneiden, führte man uns von der
Puerta zum Hofe Gallegos über einen Fußpfad, der zu einem
Waſſerſtück, El Tanque genannt, führt. Man verfehlte den
Fußpfad, und auf dieſem letzten Wegſtück, wo es am aller-
ſteilſten abwärts ging, kamen wir in die Nähe der Schlucht
1 So Gay-Luſſac bei ſeiner Luftfahrt am 16. September 1803.
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/154>, abgerufen am 16.02.2025.
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