ein solcher Kontrast nicht wohl erklären; vielmehr ist der Charakter des Landes ein Hauptmoment, ob die Missionen raschere oder langsamere Fortschritte machen. Mitten im Lande, in Gebirgen oder auf Steppen, überall, wo sie nicht am selben Flusse fortgehen, dringen sie nur langsam vor. Man sollte es kaum glauben, daß die Stadt San Fernando am Apure, die in gerader Linie nur 225 km von dem am frühesten be- völkerten Küstenstrich von Caracas liegt, erst im Jahre 1789 gegründet worden ist. Man zeigte uns ein Pergament voll hübscher Malereien, die Stiftungsurkunde der kleinen Stadt. Dieselbe war auf Ansuchen der Mönche aus Madrid gekommen, als man noch nichts sah als ein paar Rohrhütten um ein großes, mitten im Flecken aufgerichtetes Kreuz. Da die Mis- sionäre und die weltlichen obersten Behörden gleiches Inter- esse haben, in Europa ihre Bemühungen für Förderung der Kultur und der Bevölkerung in den Provinzen über dem Meer in übertriebenem Lichte erscheinen zu lassen, so kommt es oft vor, daß Stadt- und Dorfnamen lange vor der wirklichen Gründung in der Liste der neuen Eroberungen aufgeführt werden. Wir werden an den Ufern des Orinoko und des Cassiquiare dergleichen Ortschaften nennen, die längst pro- jektiert waren, aber nie anderswo standen als auf den in Rom und Madrid gestochenen Missionskarten.
San Fernando, an einem großen schiffbaren Strome, nahe bei der Einmündung eines anderen, der die ganze Provinz Varinas durchzieht, ist für den Handel ungemein günstig ge- legen. Alle Produkte dieser Provinz, Häute, Kakao, Baum- wolle, der Indigo von Mijagual, der ausgezeichnet gut ist, gehen über diese Stadt nach den Mündungen des Orinoko. In der Regenzeit kommen große Fahrzeuge von Angostura nach San Francisco herauf, sowie auf dem Rio Santo Do- mingo nach Torunos, dem Hafen der Stadt Varinas. Um diese Zeit treten die Flüsse aus, und zwischen dem Apure, dem Capanaparo und Sinaruco bildet sich dann ein wahres Labyrinth von Verzweigungen, das über eine Fläche Landes von 8100 qkm reicht. Hier ist der Punkt, wo der Orinoko, nicht wegen naher Berge, sondern durch das Gefälle der Gegenhänge seinen Lauf ändert und sofort, statt wie bisher die Richtung eines Meridians zu verfolgen, ostwärts fließt. Betrachtet man die Erdoberfläche als einen vielseitigen Körper mit verschieden geneigten Flächen, so springt schon bei einem Blick auf die Karten in die Augen, daß zwischen San
ein ſolcher Kontraſt nicht wohl erklären; vielmehr iſt der Charakter des Landes ein Hauptmoment, ob die Miſſionen raſchere oder langſamere Fortſchritte machen. Mitten im Lande, in Gebirgen oder auf Steppen, überall, wo ſie nicht am ſelben Fluſſe fortgehen, dringen ſie nur langſam vor. Man ſollte es kaum glauben, daß die Stadt San Fernando am Apure, die in gerader Linie nur 225 km von dem am früheſten be- völkerten Küſtenſtrich von Caracas liegt, erſt im Jahre 1789 gegründet worden iſt. Man zeigte uns ein Pergament voll hübſcher Malereien, die Stiftungsurkunde der kleinen Stadt. Dieſelbe war auf Anſuchen der Mönche aus Madrid gekommen, als man noch nichts ſah als ein paar Rohrhütten um ein großes, mitten im Flecken aufgerichtetes Kreuz. Da die Miſ- ſionäre und die weltlichen oberſten Behörden gleiches Inter- eſſe haben, in Europa ihre Bemühungen für Förderung der Kultur und der Bevölkerung in den Provinzen über dem Meer in übertriebenem Lichte erſcheinen zu laſſen, ſo kommt es oft vor, daß Stadt- und Dorfnamen lange vor der wirklichen Gründung in der Liſte der neuen Eroberungen aufgeführt werden. Wir werden an den Ufern des Orinoko und des Caſſiquiare dergleichen Ortſchaften nennen, die längſt pro- jektiert waren, aber nie anderswo ſtanden als auf den in Rom und Madrid geſtochenen Miſſionskarten.
San Fernando, an einem großen ſchiffbaren Strome, nahe bei der Einmündung eines anderen, der die ganze Provinz Varinas durchzieht, iſt für den Handel ungemein günſtig ge- legen. Alle Produkte dieſer Provinz, Häute, Kakao, Baum- wolle, der Indigo von Mijagual, der ausgezeichnet gut iſt, gehen über dieſe Stadt nach den Mündungen des Orinoko. In der Regenzeit kommen große Fahrzeuge von Angoſtura nach San Francisco herauf, ſowie auf dem Rio Santo Do- mingo nach Torunos, dem Hafen der Stadt Varinas. Um dieſe Zeit treten die Flüſſe aus, und zwiſchen dem Apure, dem Capanaparo und Sinaruco bildet ſich dann ein wahres Labyrinth von Verzweigungen, das über eine Fläche Landes von 8100 qkm reicht. Hier iſt der Punkt, wo der Orinoko, nicht wegen naher Berge, ſondern durch das Gefälle der Gegenhänge ſeinen Lauf ändert und ſofort, ſtatt wie bisher die Richtung eines Meridians zu verfolgen, oſtwärts fließt. Betrachtet man die Erdoberfläche als einen vielſeitigen Körper mit verſchieden geneigten Flächen, ſo ſpringt ſchon bei einem Blick auf die Karten in die Augen, daß zwiſchen San
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[4/0012]
ein ſolcher Kontraſt nicht wohl erklären; vielmehr iſt der
Charakter des Landes ein Hauptmoment, ob die Miſſionen
raſchere oder langſamere Fortſchritte machen. Mitten im Lande,
in Gebirgen oder auf Steppen, überall, wo ſie nicht am ſelben
Fluſſe fortgehen, dringen ſie nur langſam vor. Man ſollte
es kaum glauben, daß die Stadt San Fernando am Apure,
die in gerader Linie nur 225 km von dem am früheſten be-
völkerten Küſtenſtrich von Caracas liegt, erſt im Jahre 1789
gegründet worden iſt. Man zeigte uns ein Pergament voll
hübſcher Malereien, die Stiftungsurkunde der kleinen Stadt.
Dieſelbe war auf Anſuchen der Mönche aus Madrid gekommen,
als man noch nichts ſah als ein paar Rohrhütten um ein
großes, mitten im Flecken aufgerichtetes Kreuz. Da die Miſ-
ſionäre und die weltlichen oberſten Behörden gleiches Inter-
eſſe haben, in Europa ihre Bemühungen für Förderung der
Kultur und der Bevölkerung in den Provinzen über dem Meer
in übertriebenem Lichte erſcheinen zu laſſen, ſo kommt es oft
vor, daß Stadt- und Dorfnamen lange vor der wirklichen
Gründung in der Liſte der neuen Eroberungen aufgeführt
werden. Wir werden an den Ufern des Orinoko und des
Caſſiquiare dergleichen Ortſchaften nennen, die längſt pro-
jektiert waren, aber nie anderswo ſtanden als auf den in
Rom und Madrid geſtochenen Miſſionskarten.
San Fernando, an einem großen ſchiffbaren Strome,
nahe bei der Einmündung eines anderen, der die ganze Provinz
Varinas durchzieht, iſt für den Handel ungemein günſtig ge-
legen. Alle Produkte dieſer Provinz, Häute, Kakao, Baum-
wolle, der Indigo von Mijagual, der ausgezeichnet gut iſt,
gehen über dieſe Stadt nach den Mündungen des Orinoko.
In der Regenzeit kommen große Fahrzeuge von Angoſtura
nach San Francisco herauf, ſowie auf dem Rio Santo Do-
mingo nach Torunos, dem Hafen der Stadt Varinas. Um
dieſe Zeit treten die Flüſſe aus, und zwiſchen dem Apure,
dem Capanaparo und Sinaruco bildet ſich dann ein wahres
Labyrinth von Verzweigungen, das über eine Fläche Landes
von 8100 qkm reicht. Hier iſt der Punkt, wo der Orinoko,
nicht wegen naher Berge, ſondern durch das Gefälle der
Gegenhänge ſeinen Lauf ändert und ſofort, ſtatt wie bisher
die Richtung eines Meridians zu verfolgen, oſtwärts fließt.
Betrachtet man die Erdoberfläche als einen vielſeitigen Körper
mit verſchieden geneigten Flächen, ſo ſpringt ſchon bei einem
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/12>, abgerufen am 16.07.2024.
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