dem behaarten Waldmenschen, dem sogenannten Salvaje sprechen, der Weiber entführt, Hütten baut und zuweilen Menschenfleisch frißt. Die Tamanaken nennen ihn Achi, die Maypures Vasitri oder den großen Teufel. Die Ein- geborenen und die Missionäre zweifeln nicht an der Existenz dieses menschenähnlichen Affen, vor dem sie sich sehr fürchten. Pater Gili erzählt in vollem Ernste eine Geschichte von einer Dame aus der Stadt San Carlos, welche dem Waldmenschen wegen seiner Gutmütigkeit und Zuvorkommenheit das beste Zeugnis gab. Sie lebte mehrere Jahre sehr gut mit ihm und ließ sich von Jägern nur deshalb wieder in den Schoß ihrer Familie bringen, "weil sie, nebst ihren Kindern (die auch etwas behaart waren), der Kirche und der heiligen Sakramente nicht länger entbehren mochte". Bei aller Leichtgläubigkeit gesteht dieser Schriftsteller, er habe keinen Indianer auftreiben können, der ausdrücklich gesagt hätte, er habe den Salvaje mit eigenen Augen gesehen. Dieses Märchen, das ohne Zweifel von den Missionären, den spanischen Kolonisten und den Negern aus Afrika mit verschiedenen Zügen aus der Sitten- geschichte des Orang-Utan, Gibbon, Joko oder Chimpanse und Pongo ausstaffiert worden ist, hat uns 5 Jahre lang in der nördlichen wie in der südlichen Halbkugel verfolgt, und überall, selbst in den gebildetsten Kreisen, nahm man es übel, daß wir allein uns herausnahmen, daran zu zweifeln, daß es in Amerika einen großen menschenähnlichen Affen gebe. Wir bemerken zunächst, daß in gewissen Gegenden dieser Glaube besonders stark unter dem Volke verbreitet ist, so namentlich am oberen Orinoko, im Thale Upar beim See Maracaybo, in den Bergen von Santa Marta und Merida, im Distrikt von Quixos und am Amazonenstrom bei Tomependa. An allen diesen so weit auseinander gelegenen Orten kann man hören, den Salvaje erkenne man leicht an seinen Fußstapfen denn die Zehen seien nach hinten gekehrt. Gibt es aber auf dem neuen Kontinent einen Affen von ansehnlicher Größe, wie kommt es, daß sich seit 300 Jahren kein glaubwürdiger Mann das Fell desselben hat verschaffen können? Was zu so einem alten Irrtum oder Glauben Anlaß gegeben haben mag, darüber lassen sich mehrere Vermutungen aufstellen. Sollte der vielberufene Kapuzineraffe von Esmeralda,1 dessen Hundszähne über 14 mm lang sind, der ein viel menschen-
1Simia chiropotes.
dem behaarten Waldmenſchen, dem ſogenannten Salvaje ſprechen, der Weiber entführt, Hütten baut und zuweilen Menſchenfleiſch frißt. Die Tamanaken nennen ihn Achi, die Maypures Vaſitri oder den großen Teufel. Die Ein- geborenen und die Miſſionäre zweifeln nicht an der Exiſtenz dieſes menſchenähnlichen Affen, vor dem ſie ſich ſehr fürchten. Pater Gili erzählt in vollem Ernſte eine Geſchichte von einer Dame aus der Stadt San Carlos, welche dem Waldmenſchen wegen ſeiner Gutmütigkeit und Zuvorkommenheit das beſte Zeugnis gab. Sie lebte mehrere Jahre ſehr gut mit ihm und ließ ſich von Jägern nur deshalb wieder in den Schoß ihrer Familie bringen, „weil ſie, nebſt ihren Kindern (die auch etwas behaart waren), der Kirche und der heiligen Sakramente nicht länger entbehren mochte“. Bei aller Leichtgläubigkeit geſteht dieſer Schriftſteller, er habe keinen Indianer auftreiben können, der ausdrücklich geſagt hätte, er habe den Salvaje mit eigenen Augen geſehen. Dieſes Märchen, das ohne Zweifel von den Miſſionären, den ſpaniſchen Koloniſten und den Negern aus Afrika mit verſchiedenen Zügen aus der Sitten- geſchichte des Orang-Utan, Gibbon, Joko oder Chimpanſe und Pongo ausſtaffiert worden iſt, hat uns 5 Jahre lang in der nördlichen wie in der ſüdlichen Halbkugel verfolgt, und überall, ſelbſt in den gebildetſten Kreiſen, nahm man es übel, daß wir allein uns herausnahmen, daran zu zweifeln, daß es in Amerika einen großen menſchenähnlichen Affen gebe. Wir bemerken zunächſt, daß in gewiſſen Gegenden dieſer Glaube beſonders ſtark unter dem Volke verbreitet iſt, ſo namentlich am oberen Orinoko, im Thale Upar beim See Maracaybo, in den Bergen von Santa Marta und Merida, im Diſtrikt von Quixos und am Amazonenſtrom bei Tomependa. An allen dieſen ſo weit auseinander gelegenen Orten kann man hören, den Salvaje erkenne man leicht an ſeinen Fußſtapfen denn die Zehen ſeien nach hinten gekehrt. Gibt es aber auf dem neuen Kontinent einen Affen von anſehnlicher Größe, wie kommt es, daß ſich ſeit 300 Jahren kein glaubwürdiger Mann das Fell desſelben hat verſchaffen können? Was zu ſo einem alten Irrtum oder Glauben Anlaß gegeben haben mag, darüber laſſen ſich mehrere Vermutungen aufſtellen. Sollte der vielberufene Kapuzineraffe von Esmeralda,1 deſſen Hundszähne über 14 mm lang ſind, der ein viel menſchen-
1Simia chiropotes.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0149"n="141"/>
dem behaarten Waldmenſchen, dem ſogenannten <hirendition="#g">Salvaje</hi><lb/>ſprechen, der Weiber entführt, Hütten baut und zuweilen<lb/>
Menſchenfleiſch frißt. Die Tamanaken nennen ihn <hirendition="#g">Achi</hi>, die<lb/>
Maypures <hirendition="#g">Vaſitri</hi> oder den <hirendition="#g">großen Teufel</hi>. Die Ein-<lb/>
geborenen und die Miſſionäre zweifeln nicht an der Exiſtenz<lb/>
dieſes menſchenähnlichen Affen, vor dem ſie ſich ſehr fürchten.<lb/>
Pater Gili erzählt in vollem Ernſte eine Geſchichte von einer<lb/>
Dame aus der Stadt San Carlos, welche dem Waldmenſchen<lb/>
wegen ſeiner Gutmütigkeit und Zuvorkommenheit das beſte<lb/>
Zeugnis gab. Sie lebte mehrere Jahre ſehr gut mit ihm und<lb/>
ließ ſich von Jägern nur deshalb wieder in den Schoß ihrer<lb/>
Familie bringen, „weil ſie, nebſt ihren Kindern (die auch etwas<lb/>
behaart waren), der Kirche und der heiligen Sakramente nicht<lb/>
länger entbehren mochte“. Bei aller Leichtgläubigkeit geſteht<lb/>
dieſer Schriftſteller, er habe keinen Indianer auftreiben können,<lb/>
der ausdrücklich geſagt hätte, er habe den <hirendition="#g">Salvaje</hi> mit<lb/>
eigenen Augen geſehen. Dieſes Märchen, das ohne Zweifel<lb/>
von den Miſſionären, den ſpaniſchen Koloniſten und den<lb/>
Negern aus Afrika mit verſchiedenen Zügen aus der Sitten-<lb/>
geſchichte des Orang-Utan, Gibbon, Joko oder Chimpanſe und<lb/>
Pongo ausſtaffiert worden iſt, hat uns 5 Jahre lang in der<lb/>
nördlichen wie in der ſüdlichen Halbkugel verfolgt, und überall,<lb/>ſelbſt in den gebildetſten Kreiſen, nahm man es übel, daß<lb/>
wir allein uns herausnahmen, daran zu zweifeln, daß es in<lb/>
Amerika einen großen menſchenähnlichen Affen gebe. Wir<lb/>
bemerken zunächſt, daß in gewiſſen Gegenden dieſer Glaube<lb/>
beſonders ſtark unter dem Volke verbreitet iſt, ſo namentlich<lb/>
am oberen Orinoko, im Thale Upar beim See Maracaybo, in<lb/>
den Bergen von Santa Marta und Merida, im Diſtrikt von<lb/>
Quixos und am Amazonenſtrom bei Tomependa. An allen<lb/>
dieſen ſo weit auseinander gelegenen Orten kann man hören,<lb/>
den Salvaje erkenne man leicht an ſeinen Fußſtapfen denn<lb/>
die Zehen ſeien nach hinten gekehrt. Gibt es aber auf dem<lb/>
neuen Kontinent einen Affen von anſehnlicher Größe, wie<lb/>
kommt es, daß ſich ſeit 300 Jahren kein glaubwürdiger<lb/>
Mann das Fell desſelben hat verſchaffen können? Was zu<lb/>ſo einem alten Irrtum oder Glauben Anlaß gegeben haben<lb/>
mag, darüber laſſen ſich mehrere Vermutungen aufſtellen.<lb/>
Sollte der vielberufene Kapuzineraffe von Esmeralda,<noteplace="foot"n="1"><hirendition="#aq">Simia chiropotes.</hi></note> deſſen<lb/>
Hundszähne über 14 <hirendition="#aq">mm</hi> lang ſind, der ein viel menſchen-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[141/0149]
dem behaarten Waldmenſchen, dem ſogenannten Salvaje
ſprechen, der Weiber entführt, Hütten baut und zuweilen
Menſchenfleiſch frißt. Die Tamanaken nennen ihn Achi, die
Maypures Vaſitri oder den großen Teufel. Die Ein-
geborenen und die Miſſionäre zweifeln nicht an der Exiſtenz
dieſes menſchenähnlichen Affen, vor dem ſie ſich ſehr fürchten.
Pater Gili erzählt in vollem Ernſte eine Geſchichte von einer
Dame aus der Stadt San Carlos, welche dem Waldmenſchen
wegen ſeiner Gutmütigkeit und Zuvorkommenheit das beſte
Zeugnis gab. Sie lebte mehrere Jahre ſehr gut mit ihm und
ließ ſich von Jägern nur deshalb wieder in den Schoß ihrer
Familie bringen, „weil ſie, nebſt ihren Kindern (die auch etwas
behaart waren), der Kirche und der heiligen Sakramente nicht
länger entbehren mochte“. Bei aller Leichtgläubigkeit geſteht
dieſer Schriftſteller, er habe keinen Indianer auftreiben können,
der ausdrücklich geſagt hätte, er habe den Salvaje mit
eigenen Augen geſehen. Dieſes Märchen, das ohne Zweifel
von den Miſſionären, den ſpaniſchen Koloniſten und den
Negern aus Afrika mit verſchiedenen Zügen aus der Sitten-
geſchichte des Orang-Utan, Gibbon, Joko oder Chimpanſe und
Pongo ausſtaffiert worden iſt, hat uns 5 Jahre lang in der
nördlichen wie in der ſüdlichen Halbkugel verfolgt, und überall,
ſelbſt in den gebildetſten Kreiſen, nahm man es übel, daß
wir allein uns herausnahmen, daran zu zweifeln, daß es in
Amerika einen großen menſchenähnlichen Affen gebe. Wir
bemerken zunächſt, daß in gewiſſen Gegenden dieſer Glaube
beſonders ſtark unter dem Volke verbreitet iſt, ſo namentlich
am oberen Orinoko, im Thale Upar beim See Maracaybo, in
den Bergen von Santa Marta und Merida, im Diſtrikt von
Quixos und am Amazonenſtrom bei Tomependa. An allen
dieſen ſo weit auseinander gelegenen Orten kann man hören,
den Salvaje erkenne man leicht an ſeinen Fußſtapfen denn
die Zehen ſeien nach hinten gekehrt. Gibt es aber auf dem
neuen Kontinent einen Affen von anſehnlicher Größe, wie
kommt es, daß ſich ſeit 300 Jahren kein glaubwürdiger
Mann das Fell desſelben hat verſchaffen können? Was zu
ſo einem alten Irrtum oder Glauben Anlaß gegeben haben
mag, darüber laſſen ſich mehrere Vermutungen aufſtellen.
Sollte der vielberufene Kapuzineraffe von Esmeralda, 1 deſſen
Hundszähne über 14 mm lang ſind, der ein viel menſchen-
1 Simia chiropotes.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/149>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.