Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

sie wieder von ihren Kindern getrennt und in eine Mis-
sion am oberen Orinoko gebracht. Dort wies sie alle Nah-
rung von sich und starb, wie die Indianer in großem Jam-
mer thun.

Dies ist die Geschichte, deren Andenken an diesem un-
seligen Gestein, an der Piedra de la madre, haftet. Es ist
mir in dieser meiner Reisebeschreibung nicht darum zu thun,
bei der Schilderung einzelner Unglücksßenen zu verweilen.
Dergleichen Jammer kommt überall vor, wo es Herren und
Sklaven gibt, wo civilisierte Europäer unter versunkenen
Völkern leben, wo Priester mit unumschränkter Gewalt über
unwissende, wehrlose Menschen herrschen. Als Geschichtschreiber
der Länder, die ich bereist, beschränke ich mich meist darauf,
anzudeuten, was in den bürgerlichen und religiösen Einrich-
tungen mangelhaft oder der Menschheit verderblich erscheint.
Wenn ich beim Fels der Guahiba länger verweilt habe,
geschah es nur, um ein rührendes Beispiel von Mutterliebe
bei einer Menschenart beizubringen, die man so lange ver-
leumdet hat, und weil es mir nicht ohne Nutzen schien, einen
Vorfall zu veröffentlichen, den ich aus dem Munde von Fran-
ziskanern habe, und der beweist, wie notwendig es ist, daß
das Auge des Gesetzgebers über dem Regiment der Missio-
näre wacht.

Oberhalb des Einflusses des Guasacavi liefen wir in den
Rio Temi ein, der von Süd nach Nord läuft. Wären wir
den Atabapo weiter hinaufgefahren, so wären wir gegen Ost-
Süd-Ost vom Guainia oder Rio Negro abgekommen. Der
Temi ist nur 155 bis 175 m breit, und in jedem anderen
Lande als Guyana wäre dies noch immer ein bedeutender
Fluß. Das Land ist äußerst einförmig, nichts als Wald auf
völlig ebenem Boden. Die schöne Pirijaopalme mit Früchten
wie Pfirsiche, und eine neue Art Bache oder Mauritia mit
stachligem Stamm ragen hoch über den kleineren Bäumen,
deren Wachstum, wie es scheint, durch das lange Stehen unter
Wasser niedergehalten wird. Diese Mauritia aculeata heißt
bei den Indianern Juria oder Cauvaja. Sie hat fächer-
förmige, gegen den Boden gesenkte Blätter; auf jedem Blatte
sieht man gegen die Mitte, wahrscheinlich infolge einer Krank-
heit des Parenchyms, konzentrische, abwechselnd gelbe und
blaue Kreise; gegen die Mitte herrscht das Gelb vor. Diese
Erscheinung fiel uns sehr auf. Diese wie ein Pfauenschweif
gefärbten Blätter sitzen auf kurzen, sehr dicken Stämmen.

ſie wieder von ihren Kindern getrennt und in eine Miſ-
ſion am oberen Orinoko gebracht. Dort wies ſie alle Nah-
rung von ſich und ſtarb, wie die Indianer in großem Jam-
mer thun.

Dies iſt die Geſchichte, deren Andenken an dieſem un-
ſeligen Geſtein, an der Piedra de la madre, haftet. Es iſt
mir in dieſer meiner Reiſebeſchreibung nicht darum zu thun,
bei der Schilderung einzelner Unglücksſzenen zu verweilen.
Dergleichen Jammer kommt überall vor, wo es Herren und
Sklaven gibt, wo civiliſierte Europäer unter verſunkenen
Völkern leben, wo Prieſter mit unumſchränkter Gewalt über
unwiſſende, wehrloſe Menſchen herrſchen. Als Geſchichtſchreiber
der Länder, die ich bereiſt, beſchränke ich mich meiſt darauf,
anzudeuten, was in den bürgerlichen und religiöſen Einrich-
tungen mangelhaft oder der Menſchheit verderblich erſcheint.
Wenn ich beim Fels der Guahiba länger verweilt habe,
geſchah es nur, um ein rührendes Beiſpiel von Mutterliebe
bei einer Menſchenart beizubringen, die man ſo lange ver-
leumdet hat, und weil es mir nicht ohne Nutzen ſchien, einen
Vorfall zu veröffentlichen, den ich aus dem Munde von Fran-
ziskanern habe, und der beweiſt, wie notwendig es iſt, daß
das Auge des Geſetzgebers über dem Regiment der Miſſio-
näre wacht.

Oberhalb des Einfluſſes des Guaſacavi liefen wir in den
Rio Temi ein, der von Süd nach Nord läuft. Wären wir
den Atabapo weiter hinaufgefahren, ſo wären wir gegen Oſt-
Süd-Oſt vom Guainia oder Rio Negro abgekommen. Der
Temi iſt nur 155 bis 175 m breit, und in jedem anderen
Lande als Guyana wäre dies noch immer ein bedeutender
Fluß. Das Land iſt äußerſt einförmig, nichts als Wald auf
völlig ebenem Boden. Die ſchöne Pirijaopalme mit Früchten
wie Pfirſiche, und eine neue Art Bache oder Mauritia mit
ſtachligem Stamm ragen hoch über den kleineren Bäumen,
deren Wachstum, wie es ſcheint, durch das lange Stehen unter
Waſſer niedergehalten wird. Dieſe Mauritia aculeata heißt
bei den Indianern Juria oder Cauvaja. Sie hat fächer-
förmige, gegen den Boden geſenkte Blätter; auf jedem Blatte
ſieht man gegen die Mitte, wahrſcheinlich infolge einer Krank-
heit des Parenchyms, konzentriſche, abwechſelnd gelbe und
blaue Kreiſe; gegen die Mitte herrſcht das Gelb vor. Dieſe
Erſcheinung fiel uns ſehr auf. Dieſe wie ein Pfauenſchweif
gefärbten Blätter ſitzen auf kurzen, ſehr dicken Stämmen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0227" n="219"/>
&#x017F;ie wieder von ihren Kindern getrennt und in eine Mi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ion am oberen Orinoko gebracht. Dort wies &#x017F;ie alle Nah-<lb/>
rung von &#x017F;ich und &#x017F;tarb, wie die Indianer in großem Jam-<lb/>
mer thun.</p><lb/>
          <p>Dies i&#x017F;t die Ge&#x017F;chichte, deren Andenken an die&#x017F;em un-<lb/>
&#x017F;eligen Ge&#x017F;tein, an der Piedra de la madre, haftet. Es i&#x017F;t<lb/>
mir in die&#x017F;er meiner Rei&#x017F;ebe&#x017F;chreibung nicht darum zu thun,<lb/>
bei der Schilderung einzelner Unglücks&#x017F;zenen zu verweilen.<lb/>
Dergleichen Jammer kommt überall vor, wo es Herren und<lb/>
Sklaven gibt, wo civili&#x017F;ierte Europäer unter ver&#x017F;unkenen<lb/>
Völkern leben, wo Prie&#x017F;ter mit unum&#x017F;chränkter Gewalt über<lb/>
unwi&#x017F;&#x017F;ende, wehrlo&#x017F;e Men&#x017F;chen herr&#x017F;chen. Als Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber<lb/>
der Länder, die ich berei&#x017F;t, be&#x017F;chränke ich mich mei&#x017F;t darauf,<lb/>
anzudeuten, was in den bürgerlichen und religiö&#x017F;en Einrich-<lb/>
tungen mangelhaft oder der Men&#x017F;chheit verderblich er&#x017F;cheint.<lb/>
Wenn ich beim <hi rendition="#g">Fels der Guahiba</hi> länger verweilt habe,<lb/>
ge&#x017F;chah es nur, um ein rührendes Bei&#x017F;piel von Mutterliebe<lb/>
bei einer Men&#x017F;chenart beizubringen, die man &#x017F;o lange ver-<lb/>
leumdet hat, und weil es mir nicht ohne Nutzen &#x017F;chien, einen<lb/>
Vorfall zu veröffentlichen, den ich aus dem Munde von Fran-<lb/>
ziskanern habe, und der bewei&#x017F;t, wie notwendig es i&#x017F;t, daß<lb/>
das Auge des Ge&#x017F;etzgebers über dem Regiment der Mi&#x017F;&#x017F;io-<lb/>
näre wacht.</p><lb/>
          <p>Oberhalb des Einflu&#x017F;&#x017F;es des Gua&#x017F;acavi liefen wir in den<lb/>
Rio Temi ein, der von Süd nach Nord läuft. Wären wir<lb/>
den Atabapo weiter hinaufgefahren, &#x017F;o wären wir gegen O&#x017F;t-<lb/>
Süd-O&#x017F;t vom Guainia oder Rio Negro abgekommen. Der<lb/>
Temi i&#x017F;t nur 155 bis 175 <hi rendition="#aq">m</hi> breit, und in jedem anderen<lb/>
Lande als Guyana wäre dies noch immer ein bedeutender<lb/>
Fluß. Das Land i&#x017F;t äußer&#x017F;t einförmig, nichts als Wald auf<lb/>
völlig ebenem Boden. Die &#x017F;chöne Pirijaopalme mit Früchten<lb/>
wie Pfir&#x017F;iche, und eine neue Art <hi rendition="#g">Bache</hi> oder Mauritia mit<lb/>
&#x017F;tachligem Stamm ragen hoch über den kleineren Bäumen,<lb/>
deren Wachstum, wie es &#x017F;cheint, durch das lange Stehen unter<lb/>
Wa&#x017F;&#x017F;er niedergehalten wird. Die&#x017F;e <hi rendition="#aq">Mauritia aculeata</hi> heißt<lb/>
bei den Indianern <hi rendition="#g">Juria</hi> oder <hi rendition="#g">Cauvaja</hi>. Sie hat fächer-<lb/>
förmige, gegen den Boden ge&#x017F;enkte Blätter; auf jedem Blatte<lb/>
&#x017F;ieht man gegen die Mitte, wahr&#x017F;cheinlich infolge einer Krank-<lb/>
heit des Parenchyms, konzentri&#x017F;che, abwech&#x017F;elnd gelbe und<lb/>
blaue Krei&#x017F;e; gegen die Mitte herr&#x017F;cht das Gelb vor. Die&#x017F;e<lb/>
Er&#x017F;cheinung fiel uns &#x017F;ehr auf. Die&#x017F;e wie ein Pfauen&#x017F;chweif<lb/>
gefärbten Blätter &#x017F;itzen auf kurzen, &#x017F;ehr dicken Stämmen.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[219/0227] ſie wieder von ihren Kindern getrennt und in eine Miſ- ſion am oberen Orinoko gebracht. Dort wies ſie alle Nah- rung von ſich und ſtarb, wie die Indianer in großem Jam- mer thun. Dies iſt die Geſchichte, deren Andenken an dieſem un- ſeligen Geſtein, an der Piedra de la madre, haftet. Es iſt mir in dieſer meiner Reiſebeſchreibung nicht darum zu thun, bei der Schilderung einzelner Unglücksſzenen zu verweilen. Dergleichen Jammer kommt überall vor, wo es Herren und Sklaven gibt, wo civiliſierte Europäer unter verſunkenen Völkern leben, wo Prieſter mit unumſchränkter Gewalt über unwiſſende, wehrloſe Menſchen herrſchen. Als Geſchichtſchreiber der Länder, die ich bereiſt, beſchränke ich mich meiſt darauf, anzudeuten, was in den bürgerlichen und religiöſen Einrich- tungen mangelhaft oder der Menſchheit verderblich erſcheint. Wenn ich beim Fels der Guahiba länger verweilt habe, geſchah es nur, um ein rührendes Beiſpiel von Mutterliebe bei einer Menſchenart beizubringen, die man ſo lange ver- leumdet hat, und weil es mir nicht ohne Nutzen ſchien, einen Vorfall zu veröffentlichen, den ich aus dem Munde von Fran- ziskanern habe, und der beweiſt, wie notwendig es iſt, daß das Auge des Geſetzgebers über dem Regiment der Miſſio- näre wacht. Oberhalb des Einfluſſes des Guaſacavi liefen wir in den Rio Temi ein, der von Süd nach Nord läuft. Wären wir den Atabapo weiter hinaufgefahren, ſo wären wir gegen Oſt- Süd-Oſt vom Guainia oder Rio Negro abgekommen. Der Temi iſt nur 155 bis 175 m breit, und in jedem anderen Lande als Guyana wäre dies noch immer ein bedeutender Fluß. Das Land iſt äußerſt einförmig, nichts als Wald auf völlig ebenem Boden. Die ſchöne Pirijaopalme mit Früchten wie Pfirſiche, und eine neue Art Bache oder Mauritia mit ſtachligem Stamm ragen hoch über den kleineren Bäumen, deren Wachstum, wie es ſcheint, durch das lange Stehen unter Waſſer niedergehalten wird. Dieſe Mauritia aculeata heißt bei den Indianern Juria oder Cauvaja. Sie hat fächer- förmige, gegen den Boden geſenkte Blätter; auf jedem Blatte ſieht man gegen die Mitte, wahrſcheinlich infolge einer Krank- heit des Parenchyms, konzentriſche, abwechſelnd gelbe und blaue Kreiſe; gegen die Mitte herrſcht das Gelb vor. Dieſe Erſcheinung fiel uns ſehr auf. Dieſe wie ein Pfauenſchweif gefärbten Blätter ſitzen auf kurzen, ſehr dicken Stämmen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/227
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/227>, abgerufen am 23.11.2024.