"närrischen" Schildkröten zerbrochen, so ergibt sich, daß, sollen jährlich 5000 Krüge Oel gewonnen werden, 330 000 Arrau- schildkröten, die zusammen 165 000 Zentner wiegen, auf den drei Ernteplätzen 33 Millionen Eier legen müssen. Und mit dieser Rechnung bleibt man noch weit unter der wahren Zahl. Viele Schildkröten legen nur 60 bis 70 Eier; viele werden im Augenblick, wo sie aus dem Wasser gehen, von den Ja- guaren gefressen; die Indianer nehmen viele Eier mit, um sie an der Sonne zu trocknen und zu essen, und sie zerbrechen bei der Ernte sehr viele aus Fahrlässigkeit. Die Menge der Eier, die bereits ausgeschlüpft sind, ehe der Mensch darüber kommt, ist so ungeheuer, daß ich beim Lagerplatz von Uruana das ganze Ufer des Orinoko von jungen, 26 mm breiten Schildkröten wimmeln sah, die mit Not den Kindern der In- dianer entkamen, welche Jagd auf sie machten. Nimmt man noch hinzu, daß nicht alle Arrau zu den drei Lagerplätzen kommen, daß viele zwischen der Mündung des Orinoko und dem Einfluß des Apure einzeln und ein paar Wochen später legen, so kommt man notwendig zu dem Schluß, daß sich die Zahl der Schildkröten, welche jährlich an den Ufern des unteren Orinoko ihre Eier legen, nahezu auf eine Million beläuft. Dies ist ausnehmend viel für ein Tier von beträchtlicher Größe, das einen halben Zentner schwer wird, und unter dessen Geschlecht der Mensch so furchtbar aufräumt. Im allgemeinen pflanzt die Natur in der Tierwelt die großen Arten in geringerer Zahl fort als die kleinen.
Das Erntegeschäft und die Zubereitung des Oels währen drei Wochen. Nur um diese Zeit stehen die Missionen mit der Küste und den benachbarten civilisierten Ländern in Ver- kehr. Die Franziskaner, die südlich von den Katarakten leben, kommen zur Eierernte nicht sowohl, um sich Oel zu ver- schaffen, als um weiße Gesichter zu sehen, wie sie sagen, und um zu hören, "ob der König sich im Eskorial oder in San Ildefonso aufhält, ob die Klöster in Frankreich noch immer aufgehoben sind, vor allem aber, ob der Türke sich noch immer ruhig verhält". Das ist alles, wofür ein Mönch am Orinoko Sinn hat, Dinge, worüber die Krämer aus Ango- stura, die in die Lager kommen, nicht einmal genaue Aus- kunft geben können. In diesen weit entlegenen Ländern wird eine Neuigkeit, die ein Weißer aus der Hauptstadt bringt, nie- mals in Zweifel gezogen. Zweifeln ist fast soviel wie Denken, und wie sollte man es nicht beschwerlich finden, den Kopf
„närriſchen“ Schildkröten zerbrochen, ſo ergibt ſich, daß, ſollen jährlich 5000 Krüge Oel gewonnen werden, 330 000 Arrau- ſchildkröten, die zuſammen 165 000 Zentner wiegen, auf den drei Ernteplätzen 33 Millionen Eier legen müſſen. Und mit dieſer Rechnung bleibt man noch weit unter der wahren Zahl. Viele Schildkröten legen nur 60 bis 70 Eier; viele werden im Augenblick, wo ſie aus dem Waſſer gehen, von den Ja- guaren gefreſſen; die Indianer nehmen viele Eier mit, um ſie an der Sonne zu trocknen und zu eſſen, und ſie zerbrechen bei der Ernte ſehr viele aus Fahrläſſigkeit. Die Menge der Eier, die bereits ausgeſchlüpft ſind, ehe der Menſch darüber kommt, iſt ſo ungeheuer, daß ich beim Lagerplatz von Uruana das ganze Ufer des Orinoko von jungen, 26 mm breiten Schildkröten wimmeln ſah, die mit Not den Kindern der In- dianer entkamen, welche Jagd auf ſie machten. Nimmt man noch hinzu, daß nicht alle Arrau zu den drei Lagerplätzen kommen, daß viele zwiſchen der Mündung des Orinoko und dem Einfluß des Apure einzeln und ein paar Wochen ſpäter legen, ſo kommt man notwendig zu dem Schluß, daß ſich die Zahl der Schildkröten, welche jährlich an den Ufern des unteren Orinoko ihre Eier legen, nahezu auf eine Million beläuft. Dies iſt ausnehmend viel für ein Tier von beträchtlicher Größe, das einen halben Zentner ſchwer wird, und unter deſſen Geſchlecht der Menſch ſo furchtbar aufräumt. Im allgemeinen pflanzt die Natur in der Tierwelt die großen Arten in geringerer Zahl fort als die kleinen.
Das Erntegeſchäft und die Zubereitung des Oels währen drei Wochen. Nur um dieſe Zeit ſtehen die Miſſionen mit der Küſte und den benachbarten civiliſierten Ländern in Ver- kehr. Die Franziskaner, die ſüdlich von den Katarakten leben, kommen zur Eierernte nicht ſowohl, um ſich Oel zu ver- ſchaffen, als um weiße Geſichter zu ſehen, wie ſie ſagen, und um zu hören, „ob der König ſich im Eskorial oder in San Ildefonſo aufhält, ob die Klöſter in Frankreich noch immer aufgehoben ſind, vor allem aber, ob der Türke ſich noch immer ruhig verhält“. Das iſt alles, wofür ein Mönch am Orinoko Sinn hat, Dinge, worüber die Krämer aus Ango- ſtura, die in die Lager kommen, nicht einmal genaue Aus- kunft geben können. In dieſen weit entlegenen Ländern wird eine Neuigkeit, die ein Weißer aus der Hauptſtadt bringt, nie- mals in Zweifel gezogen. Zweifeln iſt faſt ſoviel wie Denken, und wie ſollte man es nicht beſchwerlich finden, den Kopf
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„närriſchen“ Schildkröten zerbrochen, ſo ergibt ſich, daß, ſollen
jährlich 5000 Krüge Oel gewonnen werden, 330 000 Arrau-
ſchildkröten, die zuſammen 165 000 Zentner wiegen, auf den
drei Ernteplätzen 33 Millionen Eier legen müſſen. Und mit
dieſer Rechnung bleibt man noch weit unter der wahren Zahl.
Viele Schildkröten legen nur 60 bis 70 Eier; viele werden
im Augenblick, wo ſie aus dem Waſſer gehen, von den Ja-
guaren gefreſſen; die Indianer nehmen viele Eier mit, um
ſie an der Sonne zu trocknen und zu eſſen, und ſie zerbrechen
bei der Ernte ſehr viele aus Fahrläſſigkeit. Die Menge der
Eier, die bereits ausgeſchlüpft ſind, ehe der Menſch darüber
kommt, iſt ſo ungeheuer, daß ich beim Lagerplatz von Uruana
das ganze Ufer des Orinoko von jungen, 26 mm breiten
Schildkröten wimmeln ſah, die mit Not den Kindern der In-
dianer entkamen, welche Jagd auf ſie machten. Nimmt man
noch hinzu, daß nicht alle Arrau zu den drei Lagerplätzen
kommen, daß viele zwiſchen der Mündung des Orinoko und
dem Einfluß des Apure einzeln und ein paar Wochen ſpäter
legen, ſo kommt man notwendig zu dem Schluß, daß ſich die
Zahl der Schildkröten, welche jährlich an den Ufern des unteren
Orinoko ihre Eier legen, nahezu auf eine Million beläuft.
Dies iſt ausnehmend viel für ein Tier von beträchtlicher
Größe, das einen halben Zentner ſchwer wird, und unter
deſſen Geſchlecht der Menſch ſo furchtbar aufräumt. Im
allgemeinen pflanzt die Natur in der Tierwelt die großen
Arten in geringerer Zahl fort als die kleinen.
Das Erntegeſchäft und die Zubereitung des Oels währen
drei Wochen. Nur um dieſe Zeit ſtehen die Miſſionen mit
der Küſte und den benachbarten civiliſierten Ländern in Ver-
kehr. Die Franziskaner, die ſüdlich von den Katarakten leben,
kommen zur Eierernte nicht ſowohl, um ſich Oel zu ver-
ſchaffen, als um weiße Geſichter zu ſehen, wie ſie ſagen,
und um zu hören, „ob der König ſich im Eskorial oder in
San Ildefonſo aufhält, ob die Klöſter in Frankreich noch
immer aufgehoben ſind, vor allem aber, ob der Türke ſich
noch immer ruhig verhält“. Das iſt alles, wofür ein Mönch
am Orinoko Sinn hat, Dinge, worüber die Krämer aus Ango-
ſtura, die in die Lager kommen, nicht einmal genaue Aus-
kunft geben können. In dieſen weit entlegenen Ländern wird
eine Neuigkeit, die ein Weißer aus der Hauptſtadt bringt, nie-
mals in Zweifel gezogen. Zweifeln iſt faſt ſoviel wie Denken,
und wie ſollte man es nicht beſchwerlich finden, den Kopf
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/63>, abgerufen am 16.02.2025.
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