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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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die Fahne des Aufruhres entfalten will, zugleich als Schlupf-
winkel und als Stützpunkt. Bewaffnete Banden (Guerillas)
können sich darin halten und die Bewohner des Küstenlandes,
des Mittelpunktes der Kultur und des Bodenreichtums, be-
unruhigen. Wäre nicht der untere Orinoko durch den Patrio-
tismus einer kräftigen, kriegsgewohnten Bevölkerung hinläng-
lich verteidigt, so wäre beim gegenwärtigen Zustande der
Llanos ein feindlicher Einfall auf den Westküsten doppelt ge-
fährlich. Die Verteidigung der Ebenen und Spanisch-Guya-
nas hängen aufs engste zusammen, und schon oben, wo von
der militärischen Bedeutung der Mündungen des Orinoko die
Rede war, habe ich gezeigt, daß die Festungswerke und die
Batterien, womit man die Nordküste von Cumana bis Car-
tagena gespickt hat, keineswegs die eigentlichen Bollwerke
der vereinigten Provinzen von Venezuela sind. Zu diesem
politischen Interesse kommt ein anderes, noch wichtigeres und
dauernderes. Eine erleuchtete Regierung kann nur mit Be-
dauern sehen, daß das Hirtenleben mit seinen Sitten, welche
Faulheit und Landstreicherei so sehr befördern, auf mehr als
zwei Dritteilen ihres Gebietes herrscht. Der Teil der Küsten-
bevölkerung, der jährlich in die Llanos abfließt, um sich in
den Hatos de ganado 1 niederzulassen und die Herden zu
hüten, macht einen Rückschritt in der Kultur. Wer möchte
bezweifeln, daß durch die Fortschritte des Ackerbaues, durch
die Anlage von Dörfern an allen Punkten, wo fließendes
Wasser ist, sich die sittlichen Zustände der Steppenbewohner
wesentlich bessern müssen? Mit dem Ackerbau müssen mildere
Sitten, die Liebe zu festem Wohnsitz und die häuslichen Tu-
genden ihren Einzug halten.

Nach dreitägigem Marsch kam uns allmählich die Berg-
kette von Cumana zu Gesicht, die zwischen den Llanos, oder,
wie man hier oft sagen hört, "dem großen Meer von Grün" 2
und der Küste des Meeres der Antillen liegt. Ist der Ber-
gantin über 1560 m hoch, so kann man ihn, auch nur eine
gewöhnliche Refraktion von 1/14 des Bogens angenommen,
auf 50 km Entfernung sehen; aber die Luftbeschaffenheit

1 Eine Art Hof, bestehend aus Schuppen, wo die Hateros
und Peones para el rodeo wohnen, d. h. die Leute, welche die
halbwilden Pferde- und Viehherden warten oder vielmehr beauf-
sichtigen.
2 "Los Llanos son como un mar de yerbas."

die Fahne des Aufruhres entfalten will, zugleich als Schlupf-
winkel und als Stützpunkt. Bewaffnete Banden (Guerillas)
können ſich darin halten und die Bewohner des Küſtenlandes,
des Mittelpunktes der Kultur und des Bodenreichtums, be-
unruhigen. Wäre nicht der untere Orinoko durch den Patrio-
tismus einer kräftigen, kriegsgewohnten Bevölkerung hinläng-
lich verteidigt, ſo wäre beim gegenwärtigen Zuſtande der
Llanos ein feindlicher Einfall auf den Weſtküſten doppelt ge-
fährlich. Die Verteidigung der Ebenen und Spaniſch-Guya-
nas hängen aufs engſte zuſammen, und ſchon oben, wo von
der militäriſchen Bedeutung der Mündungen des Orinoko die
Rede war, habe ich gezeigt, daß die Feſtungswerke und die
Batterien, womit man die Nordküſte von Cumana bis Car-
tagena geſpickt hat, keineswegs die eigentlichen Bollwerke
der vereinigten Provinzen von Venezuela ſind. Zu dieſem
politiſchen Intereſſe kommt ein anderes, noch wichtigeres und
dauernderes. Eine erleuchtete Regierung kann nur mit Be-
dauern ſehen, daß das Hirtenleben mit ſeinen Sitten, welche
Faulheit und Landſtreicherei ſo ſehr befördern, auf mehr als
zwei Dritteilen ihres Gebietes herrſcht. Der Teil der Küſten-
bevölkerung, der jährlich in die Llanos abfließt, um ſich in
den Hatos de ganado 1 niederzulaſſen und die Herden zu
hüten, macht einen Rückſchritt in der Kultur. Wer möchte
bezweifeln, daß durch die Fortſchritte des Ackerbaues, durch
die Anlage von Dörfern an allen Punkten, wo fließendes
Waſſer iſt, ſich die ſittlichen Zuſtände der Steppenbewohner
weſentlich beſſern müſſen? Mit dem Ackerbau müſſen mildere
Sitten, die Liebe zu feſtem Wohnſitz und die häuslichen Tu-
genden ihren Einzug halten.

Nach dreitägigem Marſch kam uns allmählich die Berg-
kette von Cumana zu Geſicht, die zwiſchen den Llanos, oder,
wie man hier oft ſagen hört, „dem großen Meer von Grün“ 2
und der Küſte des Meeres der Antillen liegt. Iſt der Ber-
gantin über 1560 m hoch, ſo kann man ihn, auch nur eine
gewöhnliche Refraktion von 1/14 des Bogens angenommen,
auf 50 km Entfernung ſehen; aber die Luftbeſchaffenheit

1 Eine Art Hof, beſtehend aus Schuppen, wo die Hateros
und Peones para el rodeo wohnen, d. h. die Leute, welche die
halbwilden Pferde- und Viehherden warten oder vielmehr beauf-
ſichtigen.
2 „Los Llanos son como un mar de yerbas.“
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[262/0270] die Fahne des Aufruhres entfalten will, zugleich als Schlupf- winkel und als Stützpunkt. Bewaffnete Banden (Guerillas) können ſich darin halten und die Bewohner des Küſtenlandes, des Mittelpunktes der Kultur und des Bodenreichtums, be- unruhigen. Wäre nicht der untere Orinoko durch den Patrio- tismus einer kräftigen, kriegsgewohnten Bevölkerung hinläng- lich verteidigt, ſo wäre beim gegenwärtigen Zuſtande der Llanos ein feindlicher Einfall auf den Weſtküſten doppelt ge- fährlich. Die Verteidigung der Ebenen und Spaniſch-Guya- nas hängen aufs engſte zuſammen, und ſchon oben, wo von der militäriſchen Bedeutung der Mündungen des Orinoko die Rede war, habe ich gezeigt, daß die Feſtungswerke und die Batterien, womit man die Nordküſte von Cumana bis Car- tagena geſpickt hat, keineswegs die eigentlichen Bollwerke der vereinigten Provinzen von Venezuela ſind. Zu dieſem politiſchen Intereſſe kommt ein anderes, noch wichtigeres und dauernderes. Eine erleuchtete Regierung kann nur mit Be- dauern ſehen, daß das Hirtenleben mit ſeinen Sitten, welche Faulheit und Landſtreicherei ſo ſehr befördern, auf mehr als zwei Dritteilen ihres Gebietes herrſcht. Der Teil der Küſten- bevölkerung, der jährlich in die Llanos abfließt, um ſich in den Hatos de ganado 1 niederzulaſſen und die Herden zu hüten, macht einen Rückſchritt in der Kultur. Wer möchte bezweifeln, daß durch die Fortſchritte des Ackerbaues, durch die Anlage von Dörfern an allen Punkten, wo fließendes Waſſer iſt, ſich die ſittlichen Zuſtände der Steppenbewohner weſentlich beſſern müſſen? Mit dem Ackerbau müſſen mildere Sitten, die Liebe zu feſtem Wohnſitz und die häuslichen Tu- genden ihren Einzug halten. Nach dreitägigem Marſch kam uns allmählich die Berg- kette von Cumana zu Geſicht, die zwiſchen den Llanos, oder, wie man hier oft ſagen hört, „dem großen Meer von Grün“ 2 und der Küſte des Meeres der Antillen liegt. Iſt der Ber- gantin über 1560 m hoch, ſo kann man ihn, auch nur eine gewöhnliche Refraktion von 1/14 des Bogens angenommen, auf 50 km Entfernung ſehen; aber die Luftbeſchaffenheit 1 Eine Art Hof, beſtehend aus Schuppen, wo die Hateros und Peones para el rodeo wohnen, d. h. die Leute, welche die halbwilden Pferde- und Viehherden warten oder vielmehr beauf- ſichtigen. 2 „Los Llanos son como un mar de yerbas.“

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/270>, abgerufen am 22.11.2024.