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Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

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sehen, um seinen Willen darnach zu bestimmen, bedarf keines
Religionsgrundes, um tugendhaft zu handeln, und, soviel es
seinem Charakter nach möglich ist, tugendhaft zu sein. Ganz
anders ist es hingegen, wo die Fähigkeit zu empfinden sehr stark
ist, wo jeder Gedanke leicht Gefühl wird. Allein auch hier
sind die Nuancen unendlich verschieden. Wo die Seele einen
starken Hang fühlt, aus sich hinaus in andre überzugehen, an
andre sich anzuschliessen, da werden Religionsideen wirksame
Triebfedern sein. Dagegen giebt es Charaktere, in welchen
eine so innige Konsequenz aller Ideen und Empfindungen
herrscht, die eine so grosse Tiefe der Erkenntniss und des
Gefühls besitzen, dass daraus eine Stärke und Selbstständig-
keit hervorgeht, welche das Hingeben des ganzen Seins an ein
fremdes Wesen, das Vertrauen auf fremde Kraft, wodurch sich
der Einfluss der Religion so vorzüglich äussert, weder fordert
noch erlaubt. Selbst die Lagen, welche erfordert werden, um
auf Religionsideen zurückzukommen, sind nach Verschieden-
heit der Charaktere verschieden. Bei dem einen ist jede starke
Rührung -- Freude oder Kummer -- bei dem andern nur das
frohe Gefühl aus dem Genuss entspringender Dankbarkeit
dazu hinreichend. Die letzteren Charaktere verdienen vielleicht
nicht die wenigste Schätzung. Sie sind auf der einen Seite
stark genug, um im Unglück nicht fremde Hülfe zu suchen,
und haben auf der andern zu viel Sinn für das Gefühl geliebt
zu werden, um nicht an die Idee des Genusses gern die Idee
eines liebevollen Gebers zu knüpfen. Oft hat auch die Sehn-
sucht nach religiösen Ideen noch einen edleren, reineren, wenn
ich so sagen darf, mehr intellektuellen Quell. Was der Mensch
irgend um sich her erblickt, vermag er allein durch die Vermittlung
seiner Organe aufzufassen; nirgends offenbart sich ihm unmit-
telbar das reine Wesen der Dinge; gerade das, was am hef-
tigsten seine Liebe erregt, am unwiderstehlichsten sein ganzes
Inneres ergreift, ist mit dem dichtesten Schleier umhüllt; sein

sehen, um seinen Willen darnach zu bestimmen, bedarf keines
Religionsgrundes, um tugendhaft zu handeln, und, soviel es
seinem Charakter nach möglich ist, tugendhaft zu sein. Ganz
anders ist es hingegen, wo die Fähigkeit zu empfinden sehr stark
ist, wo jeder Gedanke leicht Gefühl wird. Allein auch hier
sind die Nuancen unendlich verschieden. Wo die Seele einen
starken Hang fühlt, aus sich hinaus in andre überzugehen, an
andre sich anzuschliessen, da werden Religionsideen wirksame
Triebfedern sein. Dagegen giebt es Charaktere, in welchen
eine so innige Konsequenz aller Ideen und Empfindungen
herrscht, die eine so grosse Tiefe der Erkenntniss und des
Gefühls besitzen, dass daraus eine Stärke und Selbstständig-
keit hervorgeht, welche das Hingeben des ganzen Seins an ein
fremdes Wesen, das Vertrauen auf fremde Kraft, wodurch sich
der Einfluss der Religion so vorzüglich äussert, weder fordert
noch erlaubt. Selbst die Lagen, welche erfordert werden, um
auf Religionsideen zurückzukommen, sind nach Verschieden-
heit der Charaktere verschieden. Bei dem einen ist jede starke
Rührung — Freude oder Kummer — bei dem andern nur das
frohe Gefühl aus dem Genuss entspringender Dankbarkeit
dazu hinreichend. Die letzteren Charaktere verdienen vielleicht
nicht die wenigste Schätzung. Sie sind auf der einen Seite
stark genug, um im Unglück nicht fremde Hülfe zu suchen,
und haben auf der andern zu viel Sinn für das Gefühl geliebt
zu werden, um nicht an die Idee des Genusses gern die Idee
eines liebevollen Gebers zu knüpfen. Oft hat auch die Sehn-
sucht nach religiösen Ideen noch einen edleren, reineren, wenn
ich so sagen darf, mehr intellektuellen Quell. Was der Mensch
irgend um sich her erblickt, vermag er allein durch die Vermittlung
seiner Organe aufzufassen; nirgends offenbart sich ihm unmit-
telbar das reine Wesen der Dinge; gerade das, was am hef-
tigsten seine Liebe erregt, am unwiderstehlichsten sein ganzes
Inneres ergreift, ist mit dem dichtesten Schleier umhüllt; sein

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[70/0106] sehen, um seinen Willen darnach zu bestimmen, bedarf keines Religionsgrundes, um tugendhaft zu handeln, und, soviel es seinem Charakter nach möglich ist, tugendhaft zu sein. Ganz anders ist es hingegen, wo die Fähigkeit zu empfinden sehr stark ist, wo jeder Gedanke leicht Gefühl wird. Allein auch hier sind die Nuancen unendlich verschieden. Wo die Seele einen starken Hang fühlt, aus sich hinaus in andre überzugehen, an andre sich anzuschliessen, da werden Religionsideen wirksame Triebfedern sein. Dagegen giebt es Charaktere, in welchen eine so innige Konsequenz aller Ideen und Empfindungen herrscht, die eine so grosse Tiefe der Erkenntniss und des Gefühls besitzen, dass daraus eine Stärke und Selbstständig- keit hervorgeht, welche das Hingeben des ganzen Seins an ein fremdes Wesen, das Vertrauen auf fremde Kraft, wodurch sich der Einfluss der Religion so vorzüglich äussert, weder fordert noch erlaubt. Selbst die Lagen, welche erfordert werden, um auf Religionsideen zurückzukommen, sind nach Verschieden- heit der Charaktere verschieden. Bei dem einen ist jede starke Rührung — Freude oder Kummer — bei dem andern nur das frohe Gefühl aus dem Genuss entspringender Dankbarkeit dazu hinreichend. Die letzteren Charaktere verdienen vielleicht nicht die wenigste Schätzung. Sie sind auf der einen Seite stark genug, um im Unglück nicht fremde Hülfe zu suchen, und haben auf der andern zu viel Sinn für das Gefühl geliebt zu werden, um nicht an die Idee des Genusses gern die Idee eines liebevollen Gebers zu knüpfen. Oft hat auch die Sehn- sucht nach religiösen Ideen noch einen edleren, reineren, wenn ich so sagen darf, mehr intellektuellen Quell. Was der Mensch irgend um sich her erblickt, vermag er allein durch die Vermittlung seiner Organe aufzufassen; nirgends offenbart sich ihm unmit- telbar das reine Wesen der Dinge; gerade das, was am hef- tigsten seine Liebe erregt, am unwiderstehlichsten sein ganzes Inneres ergreift, ist mit dem dichtesten Schleier umhüllt; sein

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/106>, abgerufen am 24.11.2024.