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Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

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Freilich ist er auch dann dem höchsten Elend am nächsten.
Denn auf den Moment der Spannung vermag nur eine gleiche
Spannung zu folgen, und die Richtung zum Genuss oder zum
Entbehren liegt in der Hand des unbesiegten Schicksals.
Allein wenn das Gefühl des Höchsten im Menschen nur Glück
zu heissen verdient, so gewinnt auch Schmerz und Leiden eine
veränderte Gestalt. Der Mensch in seinem Innern wird der
Sitz des Glücks und des Unglücks, und er wechselt ja nicht
mit der wallenden Fluth, die ihn trägt. Jenes System führt,
meiner Empfindung nach, auf ein fruchtloses Streben, dem
Schmerz zu entrinnen. Wer sich wahrhaft auf Genuss ver-
steht, erduldet den Schmerz, der doch den Flüchtigen ereilt,
und freuet sich unaufhörlich am ruhigen Gange des Schick-
sals; und der Anblick der Grösse fesselt ihn süss, es mag ent-
stehen oder vernichtet werden. So kommt er -- doch freilich
nur der Schwärmer in andern, als seltnen Momenten -- selbst
zu der Empfindung, dass sogar der Moment des Gefühls der
eignen Zerstörung ein Moment des Entzückens ist.

Vielleicht werde ich beschuldigt, die hier aufgezählten Nach-
theile übertrieben zu haben; allein ich musste die volle Wirkung
des Einmischens des Staats -- von dem hier die Rede ist --
schildern, und es versteht sich von selbst, dass jene Nachtheile,
nach dem Grade und nach der Art dieses Einmischens selbst,
sehr verschieden sind. Ueberhaupt sei mir die Bitte erlaubt,
bei allem, was diese Blätter Allgemeines enthalten, von Ver-
gleichungen mit der Wirklichkeit gänzlich zu abstrahiren. In
dieser findet man selten einen Fall voll und rein, und selbst
dann sieht man nicht abgeschnitten und für sich die einzelnen
Wirkungen einzelner Dinge. Dann darf man auch nicht ver-
gessen, dass, wenn einmal schädliche Einflüsse vorhanden sind,
das Verderben mit sehr beschleunigten Schritten weiter eilt.
Wie grössere Kraft, mit grösserer vereint, doppelt grössere
hervorbringt, so artet auch geringere mit geringerer in doppelt

Freilich ist er auch dann dem höchsten Elend am nächsten.
Denn auf den Moment der Spannung vermag nur eine gleiche
Spannung zu folgen, und die Richtung zum Genuss oder zum
Entbehren liegt in der Hand des unbesiegten Schicksals.
Allein wenn das Gefühl des Höchsten im Menschen nur Glück
zu heissen verdient, so gewinnt auch Schmerz und Leiden eine
veränderte Gestalt. Der Mensch in seinem Innern wird der
Sitz des Glücks und des Unglücks, und er wechselt ja nicht
mit der wallenden Fluth, die ihn trägt. Jenes System führt,
meiner Empfindung nach, auf ein fruchtloses Streben, dem
Schmerz zu entrinnen. Wer sich wahrhaft auf Genuss ver-
steht, erduldet den Schmerz, der doch den Flüchtigen ereilt,
und freuet sich unaufhörlich am ruhigen Gange des Schick-
sals; und der Anblick der Grösse fesselt ihn süss, es mag ent-
stehen oder vernichtet werden. So kommt er — doch freilich
nur der Schwärmer in andern, als seltnen Momenten — selbst
zu der Empfindung, dass sogar der Moment des Gefühls der
eignen Zerstörung ein Moment des Entzückens ist.

Vielleicht werde ich beschuldigt, die hier aufgezählten Nach-
theile übertrieben zu haben; allein ich musste die volle Wirkung
des Einmischens des Staats — von dem hier die Rede ist —
schildern, und es versteht sich von selbst, dass jene Nachtheile,
nach dem Grade und nach der Art dieses Einmischens selbst,
sehr verschieden sind. Ueberhaupt sei mir die Bitte erlaubt,
bei allem, was diese Blätter Allgemeines enthalten, von Ver-
gleichungen mit der Wirklichkeit gänzlich zu abstrahiren. In
dieser findet man selten einen Fall voll und rein, und selbst
dann sieht man nicht abgeschnitten und für sich die einzelnen
Wirkungen einzelner Dinge. Dann darf man auch nicht ver-
gessen, dass, wenn einmal schädliche Einflüsse vorhanden sind,
das Verderben mit sehr beschleunigten Schritten weiter eilt.
Wie grössere Kraft, mit grösserer vereint, doppelt grössere
hervorbringt, so artet auch geringere mit geringerer in doppelt

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[36/0072] Freilich ist er auch dann dem höchsten Elend am nächsten. Denn auf den Moment der Spannung vermag nur eine gleiche Spannung zu folgen, und die Richtung zum Genuss oder zum Entbehren liegt in der Hand des unbesiegten Schicksals. Allein wenn das Gefühl des Höchsten im Menschen nur Glück zu heissen verdient, so gewinnt auch Schmerz und Leiden eine veränderte Gestalt. Der Mensch in seinem Innern wird der Sitz des Glücks und des Unglücks, und er wechselt ja nicht mit der wallenden Fluth, die ihn trägt. Jenes System führt, meiner Empfindung nach, auf ein fruchtloses Streben, dem Schmerz zu entrinnen. Wer sich wahrhaft auf Genuss ver- steht, erduldet den Schmerz, der doch den Flüchtigen ereilt, und freuet sich unaufhörlich am ruhigen Gange des Schick- sals; und der Anblick der Grösse fesselt ihn süss, es mag ent- stehen oder vernichtet werden. So kommt er — doch freilich nur der Schwärmer in andern, als seltnen Momenten — selbst zu der Empfindung, dass sogar der Moment des Gefühls der eignen Zerstörung ein Moment des Entzückens ist. Vielleicht werde ich beschuldigt, die hier aufgezählten Nach- theile übertrieben zu haben; allein ich musste die volle Wirkung des Einmischens des Staats — von dem hier die Rede ist — schildern, und es versteht sich von selbst, dass jene Nachtheile, nach dem Grade und nach der Art dieses Einmischens selbst, sehr verschieden sind. Ueberhaupt sei mir die Bitte erlaubt, bei allem, was diese Blätter Allgemeines enthalten, von Ver- gleichungen mit der Wirklichkeit gänzlich zu abstrahiren. In dieser findet man selten einen Fall voll und rein, und selbst dann sieht man nicht abgeschnitten und für sich die einzelnen Wirkungen einzelner Dinge. Dann darf man auch nicht ver- gessen, dass, wenn einmal schädliche Einflüsse vorhanden sind, das Verderben mit sehr beschleunigten Schritten weiter eilt. Wie grössere Kraft, mit grösserer vereint, doppelt grössere hervorbringt, so artet auch geringere mit geringerer in doppelt

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/72>, abgerufen am 18.05.2024.