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Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

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Band, welches beide Naturen im Menschen verknüpft, an
Dauer gewinnen würde, wenn nichts mehr die freie Rückwir-
kung aller menschlichen Beschäftigungen auf den Geist und
den Charakter störte; wie keiner dem andern gleichsam auf-
geopfert würde, wie jeder seine ganze, ihm zugemessene Kraft
für sich behielte, und ihn eben darum eine noch schönere
Bereitwilligkeit begeisterte, ihr eine, für andre wohlthätige
Richtung zu geben; wie, wenn jeder in seiner Eigenthümlich-
keit fortschritte, mannigfaltigere und feinere Nüancen des
schönen menschlichen Charakters entstehen, und Einseitigkeit
um so seltener sein würde, als sie überhaupt immer nur eine
Folge der Schwäche und Dürftigkeit ist, und als jeder, wenn
nichts mehr den andern zwänge, sich ihm gleich zu machen,
durch die immer fortdauernde Nothwendigkeit der Verbindung
mit andern, dringender veranlasst werden würde, sich nach
ihnen anders und anders selbst zu modificiren; wie in diesem
Volke keine Kraft und keine Hand für die Erhöhung und den
Genuss des Menschendaseins verloren ginge; endlich zeigen,
wie schon dadurch eben so auch die Gesichtspunkte aller nun
dahin gerichtet, und von jedem andern falschen, oder doch min-
der der Menschheit würdigen Endzweck abgewandt werden
würden. Ich könnte dann damit schliessen, aufmerksam darauf
zu machen, wie diese wohlthätigen Folgen einer solchen Kon-
stitution, unter einem Volke, welches es sei, ausgestreut, selbst
dem freilich nie ganz tilgbaren Elende der Menschen, den Ver-
heerungen der Natur, dem Verderben der feindseligen Neigungen,
und den Ausschweifungen einer zu üppigen Genussesfülle, einen
unendlich grossen Theil seiner Schrecklichkeit nehmen würden.
Allein ich begnüge mich, das Gegenbild geschildert zu haben;
es ist mir genug, Ideen hinzuwerfen, damit ein reiferes Urtheil
sie prüfe.

Wenn ich aus dem ganzen bisherigen Raisonnement das
letzte Resultat zu ziehen versuche; so muss der erste

Band, welches beide Naturen im Menschen verknüpft, an
Dauer gewinnen würde, wenn nichts mehr die freie Rückwir-
kung aller menschlichen Beschäftigungen auf den Geist und
den Charakter störte; wie keiner dem andern gleichsam auf-
geopfert würde, wie jeder seine ganze, ihm zugemessene Kraft
für sich behielte, und ihn eben darum eine noch schönere
Bereitwilligkeit begeisterte, ihr eine, für andre wohlthätige
Richtung zu geben; wie, wenn jeder in seiner Eigenthümlich-
keit fortschritte, mannigfaltigere und feinere Nüancen des
schönen menschlichen Charakters entstehen, und Einseitigkeit
um so seltener sein würde, als sie überhaupt immer nur eine
Folge der Schwäche und Dürftigkeit ist, und als jeder, wenn
nichts mehr den andern zwänge, sich ihm gleich zu machen,
durch die immer fortdauernde Nothwendigkeit der Verbindung
mit andern, dringender veranlasst werden würde, sich nach
ihnen anders und anders selbst zu modificiren; wie in diesem
Volke keine Kraft und keine Hand für die Erhöhung und den
Genuss des Menschendaseins verloren ginge; endlich zeigen,
wie schon dadurch eben so auch die Gesichtspunkte aller nun
dahin gerichtet, und von jedem andern falschen, oder doch min-
der der Menschheit würdigen Endzweck abgewandt werden
würden. Ich könnte dann damit schliessen, aufmerksam darauf
zu machen, wie diese wohlthätigen Folgen einer solchen Kon-
stitution, unter einem Volke, welches es sei, ausgestreut, selbst
dem freilich nie ganz tilgbaren Elende der Menschen, den Ver-
heerungen der Natur, dem Verderben der feindseligen Neigungen,
und den Ausschweifungen einer zu üppigen Genussesfülle, einen
unendlich grossen Theil seiner Schrecklichkeit nehmen würden.
Allein ich begnüge mich, das Gegenbild geschildert zu haben;
es ist mir genug, Ideen hinzuwerfen, damit ein reiferes Urtheil
sie prüfe.

Wenn ich aus dem ganzen bisherigen Raisonnement das
letzte Resultat zu ziehen versuche; so muss der erste

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[38/0074] Band, welches beide Naturen im Menschen verknüpft, an Dauer gewinnen würde, wenn nichts mehr die freie Rückwir- kung aller menschlichen Beschäftigungen auf den Geist und den Charakter störte; wie keiner dem andern gleichsam auf- geopfert würde, wie jeder seine ganze, ihm zugemessene Kraft für sich behielte, und ihn eben darum eine noch schönere Bereitwilligkeit begeisterte, ihr eine, für andre wohlthätige Richtung zu geben; wie, wenn jeder in seiner Eigenthümlich- keit fortschritte, mannigfaltigere und feinere Nüancen des schönen menschlichen Charakters entstehen, und Einseitigkeit um so seltener sein würde, als sie überhaupt immer nur eine Folge der Schwäche und Dürftigkeit ist, und als jeder, wenn nichts mehr den andern zwänge, sich ihm gleich zu machen, durch die immer fortdauernde Nothwendigkeit der Verbindung mit andern, dringender veranlasst werden würde, sich nach ihnen anders und anders selbst zu modificiren; wie in diesem Volke keine Kraft und keine Hand für die Erhöhung und den Genuss des Menschendaseins verloren ginge; endlich zeigen, wie schon dadurch eben so auch die Gesichtspunkte aller nun dahin gerichtet, und von jedem andern falschen, oder doch min- der der Menschheit würdigen Endzweck abgewandt werden würden. Ich könnte dann damit schliessen, aufmerksam darauf zu machen, wie diese wohlthätigen Folgen einer solchen Kon- stitution, unter einem Volke, welches es sei, ausgestreut, selbst dem freilich nie ganz tilgbaren Elende der Menschen, den Ver- heerungen der Natur, dem Verderben der feindseligen Neigungen, und den Ausschweifungen einer zu üppigen Genussesfülle, einen unendlich grossen Theil seiner Schrecklichkeit nehmen würden. Allein ich begnüge mich, das Gegenbild geschildert zu haben; es ist mir genug, Ideen hinzuwerfen, damit ein reiferes Urtheil sie prüfe. Wenn ich aus dem ganzen bisherigen Raisonnement das letzte Resultat zu ziehen versuche; so muss der erste

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/74>, abgerufen am 24.11.2024.