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Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 3. Stuttgart u. a., 1850.

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Sprachenbildung4, in welchem zugleich ursprüngliche körperliche Anlagen und Eindrücke der umgebenden Natur als mächtige mitbestimmende Elemente auftreten. Die Menschheit verarbeitet in sich den Stoff, welchen die Sinne ihr darbieten. Die Erzeugnisse einer solchen Geistesarbeit gehören eben so wesentlich zum Bereich des Kosmos als die Erscheinungen, die sich im Inneren abspiegeln.

Da ein reflectirtes Naturbild unter dem Einfluß aufgeregter schöpferischer Einbildungskraft sich nicht rein und treu erhalten kann; so entsteht neben dem, was wir die wirkliche oder äußere Welt nennen, eine ideale und innere Welt, voll phantastischer, zum Theil symbolischer Mythen, belebt durch fabelhafte Thiergestalten, deren einzelne Glieder den Organismen der jetzigen Schöpfung oder gar den erhaltenen Resten untergegangener Geschlechter5 entlehnt sind. Auch Wunderblumen und Wunderbäume entsprießen dem mythischen Boden: wie nach den Edda-Liedern die riesige Esche, der Weltbaum Yggdrasil, dessen Aeste über den Himmel emporstreben, während eine seiner dreifachen Wurzeln bis in die "rauschenden Kesselbrunnen" der Unterwelt reicht6. So ist das Nebelland physischer Mythen, nach Verschiedenheit der Volksstämme und der Klimate, mit anmuthigen oder mit grauenvollen Gestalten gefüllt. Jahrhunderte lang werden sie durch die Ideenkreise später Generationen vererbt.

Wenn die Arbeit, die ich geliefert, nicht genugsam dem Titel entspricht, den ich oft selbst als gewagt und unvorsichtig gewählt bezeichnet habe; so muß der Tadel der Unvollständigkeit besonders den Theil dieser Arbeit treffen, welcher das geistige Leben im Kosmos, die in die Gedanken-

Sprachenbildung4, in welchem zugleich ursprüngliche körperliche Anlagen und Eindrücke der umgebenden Natur als mächtige mitbestimmende Elemente auftreten. Die Menschheit verarbeitet in sich den Stoff, welchen die Sinne ihr darbieten. Die Erzeugnisse einer solchen Geistesarbeit gehören eben so wesentlich zum Bereich des Kosmos als die Erscheinungen, die sich im Inneren abspiegeln.

Da ein reflectirtes Naturbild unter dem Einfluß aufgeregter schöpferischer Einbildungskraft sich nicht rein und treu erhalten kann; so entsteht neben dem, was wir die wirkliche oder äußere Welt nennen, eine ideale und innere Welt, voll phantastischer, zum Theil symbolischer Mythen, belebt durch fabelhafte Thiergestalten, deren einzelne Glieder den Organismen der jetzigen Schöpfung oder gar den erhaltenen Resten untergegangener Geschlechter5 entlehnt sind. Auch Wunderblumen und Wunderbäume entsprießen dem mythischen Boden: wie nach den Edda-Liedern die riesige Esche, der Weltbaum Yggdrasil, dessen Aeste über den Himmel emporstreben, während eine seiner dreifachen Wurzeln bis in die „rauschenden Kesselbrunnen“ der Unterwelt reicht6. So ist das Nebelland physischer Mythen, nach Verschiedenheit der Volksstämme und der Klimate, mit anmuthigen oder mit grauenvollen Gestalten gefüllt. Jahrhunderte lang werden sie durch die Ideenkreise später Generationen vererbt.

Wenn die Arbeit, die ich geliefert, nicht genugsam dem Titel entspricht, den ich oft selbst als gewagt und unvorsichtig gewählt bezeichnet habe; so muß der Tadel der Unvollständigkeit besonders den Theil dieser Arbeit treffen, welcher das geistige Leben im Kosmos, die in die Gedanken-

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[7/0012] Sprachenbildung ⁴ , in welchem zugleich ursprüngliche körperliche Anlagen und Eindrücke der umgebenden Natur als mächtige mitbestimmende Elemente auftreten. Die Menschheit verarbeitet in sich den Stoff, welchen die Sinne ihr darbieten. Die Erzeugnisse einer solchen Geistesarbeit gehören eben so wesentlich zum Bereich des Kosmos als die Erscheinungen, die sich im Inneren abspiegeln. Da ein reflectirtes Naturbild unter dem Einfluß aufgeregter schöpferischer Einbildungskraft sich nicht rein und treu erhalten kann; so entsteht neben dem, was wir die wirkliche oder äußere Welt nennen, eine ideale und innere Welt, voll phantastischer, zum Theil symbolischer Mythen, belebt durch fabelhafte Thiergestalten, deren einzelne Glieder den Organismen der jetzigen Schöpfung oder gar den erhaltenen Resten untergegangener Geschlechter ⁵ entlehnt sind. Auch Wunderblumen und Wunderbäume entsprießen dem mythischen Boden: wie nach den Edda-Liedern die riesige Esche, der Weltbaum Yggdrasil, dessen Aeste über den Himmel emporstreben, während eine seiner dreifachen Wurzeln bis in die „rauschenden Kesselbrunnen“ der Unterwelt reicht ⁶ . So ist das Nebelland physischer Mythen, nach Verschiedenheit der Volksstämme und der Klimate, mit anmuthigen oder mit grauenvollen Gestalten gefüllt. Jahrhunderte lang werden sie durch die Ideenkreise später Generationen vererbt. Wenn die Arbeit, die ich geliefert, nicht genugsam dem Titel entspricht, den ich oft selbst als gewagt und unvorsichtig gewählt bezeichnet habe; so muß der Tadel der Unvollständigkeit besonders den Theil dieser Arbeit treffen, welcher das geistige Leben im Kosmos, die in die Gedanken-

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 3. Stuttgart u. a., 1850, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos03_1850/12>, abgerufen am 23.11.2024.