Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 5. Stuttgart u. a., 1862.Anmerkungen. 1 (S. 5.) "Aristoteles", sagt Brandis in seiner Geschichte der Griechisch-Römischen Philosophie (Th. II. Abth. 2. S. 45), "ist der entschiedenste Vertreter der Rechte der Erfahrung; er ist zugleich Lord Bacon's Vorgänger und sein an Tiefe und Umfang des Geistes ihm überlegener Gegner. Das Ausgehen vom Empirischen war ihm ein Bedürfniß, weil er überzeugt war, daß der menschliche Geist die Welt des Wirklichen nicht aus dem Begriffe, sondern nur vermittelst des Begriffs zu erkennen vermöge: und zwar in dem Maaße, in welchem der letztere in seiner Wechselbeziehung mit den Thatsachen der Erfahrung entwickelt werde." Auch Hegel nennt den Stagiriten als Naturphilosophen einen völligen, zugleich aber auch einen denkenden Empiriker (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, herausgegeben von Michelet, Bd. II. 1833 S. 340). Ueber den langen Kampf zwischen Realismus und Idealismus, die geschichtlichen Phasen der Erfahrungs-Philosophie wie über die Entwicklungsstufen des Empirismus im allgemeinen s. den geistreichen Kuno Fischer in seinem "Franz Baco von Verulam und das Zeitalter der Realphilosophie" (1856) S. 383-388, vorzüglich S. 468-472. 2 (S. 7.) Im strengeren Sinne der Worte und in größerer Verallgemeinerung der Begriffe ist "Weltbeschreibung die Geschichte der Natur und der Menschheit. Die Welt-Erklärung ist die Wissenschaft, welche erkennt, was die Geschichte berichtet." (Franz Baco von Verulam, a. a. O. S. 165.) 3 (S. 7.) In den Heraklitischen Naturprocessen bestand das Werden in einem beständigen Umschlagen in das stricte Gegentheil; "des Feuers Tod ist der Luft Geburt": denn Untergang ist nur die Umwandlung der untergehenden Dinge in das Gegentheil eines jeden. Wie im organischen Körper, so herrscht ein beständiger Umwandlungs-Proceß im Weltall. Leben und Sterben waren dem Epheser identische Naturprocesse, ja das Leben ein Proceß des immerwährenden Sterbens: ein Ausspruch, der mich an den des Dante im Purgatorio (XXXIII, 54) mahnt: Del viver, ch'e un correre alla morte. Der physische Lebensproceß des Individuums besteht in dem Uebergange vom Sein zum Nichtsein; in einer Bewegung wie ein Strom, ein Fließen. Auch die Sonne ist immer neu, begriffen im stetigen Proceß des
Anmerkungen. 1 (S. 5.) „Aristoteles“, sagt Brandis in seiner Geschichte der Griechisch-Römischen Philosophie (Th. II. Abth. 2. S. 45), „ist der entschiedenste Vertreter der Rechte der Erfahrung; er ist zugleich Lord Bacon's Vorgänger und sein an Tiefe und Umfang des Geistes ihm überlegener Gegner. Das Ausgehen vom Empirischen war ihm ein Bedürfniß, weil er überzeugt war, daß der menschliche Geist die Welt des Wirklichen nicht aus dem Begriffe, sondern nur vermittelst des Begriffs zu erkennen vermöge: und zwar in dem Maaße, in welchem der letztere in seiner Wechselbeziehung mit den Thatsachen der Erfahrung entwickelt werde.“ Auch Hegel nennt den Stagiriten als Naturphilosophen einen völligen, zugleich aber auch einen denkenden Empiriker (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, herausgegeben von Michelet, Bd. II. 1833 S. 340). Ueber den langen Kampf zwischen Realismus und Idealismus, die geschichtlichen Phasen der Erfahrungs-Philosophie wie über die Entwicklungsstufen des Empirismus im allgemeinen s. den geistreichen Kuno Fischer in seinem „Franz Baco von Verulam und das Zeitalter der Realphilosophie“ (1856) S. 383–388, vorzüglich S. 468–472. 2 (S. 7.) Im strengeren Sinne der Worte und in größerer Verallgemeinerung der Begriffe ist „Weltbeschreibung die Geschichte der Natur und der Menschheit. Die Welt-Erklärung ist die Wissenschaft, welche erkennt, was die Geschichte berichtet.“ (Franz Baco von Verulam, a. a. O. S. 165.) 3 (S. 7.) In den Heraklitischen Naturprocessen bestand das Werden in einem beständigen Umschlagen in das stricte Gegentheil; „des Feuers Tod ist der Luft Geburt“: denn Untergang ist nur die Umwandlung der untergehenden Dinge in das Gegentheil eines jeden. Wie im organischen Körper, so herrscht ein beständiger Umwandlungs-Proceß im Weltall. Leben und Sterben waren dem Epheser identische Naturprocesse, ja das Leben ein Proceß des immerwährenden Sterbens: ein Ausspruch, der mich an den des Dante im Purgatorio (XXXIII, 54) mahnt: Del viver, ch'è un correre alla morte. Der physische Lebensproceß des Individuums besteht in dem Uebergange vom Sein zum Nichtsein; in einer Bewegung wie ein Strom, ein Fließen. Auch die Sonne ist immer neu, begriffen im stetigen Proceß des
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0026" n="[19]"/> <div n="4"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Anmerkungen</hi>.</hi> </head><lb/> <note xml:id="ftn1-text" prev="#ftn1" place="end" n="1"> (S. 5.) „Aristoteles“, sagt <hi rendition="#g">Brandis</hi> in seiner <hi rendition="#g">Geschichte der Griechisch-Römischen Philosophie</hi> (Th. II. Abth. 2. S. 45), „ist der entschiedenste Vertreter der Rechte der Erfahrung; er ist zugleich Lord Bacon's Vorgänger und sein an Tiefe und Umfang des Geistes ihm überlegener Gegner. Das Ausgehen vom Empirischen war ihm ein Bedürfniß, weil er überzeugt war, daß der menschliche Geist die Welt des Wirklichen nicht <hi rendition="#g">aus</hi> dem Begriffe, sondern nur <hi rendition="#g">vermittelst</hi> des Begriffs zu erkennen vermöge: und zwar in dem Maaße, in welchem der letztere in seiner Wechselbeziehung mit den Thatsachen der Erfahrung entwickelt werde.“ Auch <hi rendition="#g">Hegel</hi> nennt den Stagiriten als Naturphilosophen einen <hi rendition="#g">völligen,</hi> zugleich aber auch einen <hi rendition="#g">denkenden Empiriker </hi>(<hi rendition="#g">Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie,</hi> herausgegeben von Michelet, Bd. II. 1833 S. 340). Ueber den langen Kampf zwischen <hi rendition="#g">Realismus</hi> und <hi rendition="#g">Idealismus,</hi> die geschichtlichen Phasen der Erfahrungs-Philosophie wie über die Entwicklungsstufen des Empirismus im allgemeinen s. den geistreichen <hi rendition="#g">Kuno Fischer</hi> in seinem <hi rendition="#g">„Franz Baco von Verulam und das Zeitalter der Realphilosophie“</hi> (1856) S. 383–388, vorzüglich S. 468–472.</note> <note xml:id="ftn2-text" prev="#ftn2" place="end" n="2"> (S. 7.) Im strengeren Sinne der Worte und in größerer Verallgemeinerung der Begriffe ist <hi rendition="#g">„Weltbeschreibung</hi> die Geschichte der Natur und der Menschheit. Die <hi rendition="#g">Welt-Erklärung</hi> ist die <hi rendition="#g">Wissenschaft,</hi> welche erkennt, was die Geschichte berichtet.“ (<hi rendition="#g">Franz Baco von Verulam,</hi> a. a. O. S. 165.)</note> <note xml:id="ftn3-text" prev="#ftn3" place="end" n="3"> <p> (S. 7.) In den Heraklitischen Naturprocessen bestand das Werden in einem beständigen Umschlagen in das stricte Gegentheil; „des Feuers Tod ist der Luft Geburt“: denn Untergang ist nur die Umwandlung der untergehenden Dinge in das Gegentheil eines jeden. Wie im organischen Körper, so herrscht ein beständiger Umwandlungs-Proceß im Weltall. Leben und Sterben waren dem Epheser identische Naturprocesse, ja das <hi rendition="#g">Leben</hi> ein <hi rendition="#g">Proceß des immerwährenden Sterbens:</hi> ein Ausspruch, der mich an den des <hi rendition="#g">Dante</hi> im <hi rendition="#g">Purgatorio</hi> (XXXIII, 54) mahnt: </p> <p>Del viver, ch'è un correre alla morte. </p> <p>Der physische Lebensproceß des Individuums besteht in dem Uebergange vom Sein zum Nichtsein; in einer Bewegung wie ein Strom, ein <hi rendition="#g">Fließen.</hi> Auch die Sonne ist immer neu, begriffen im stetigen Proceß des </p> </note> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [[19]/0026]
Anmerkungen.
¹ (S. 5.) „Aristoteles“, sagt Brandis in seiner Geschichte der Griechisch-Römischen Philosophie (Th. II. Abth. 2. S. 45), „ist der entschiedenste Vertreter der Rechte der Erfahrung; er ist zugleich Lord Bacon's Vorgänger und sein an Tiefe und Umfang des Geistes ihm überlegener Gegner. Das Ausgehen vom Empirischen war ihm ein Bedürfniß, weil er überzeugt war, daß der menschliche Geist die Welt des Wirklichen nicht aus dem Begriffe, sondern nur vermittelst des Begriffs zu erkennen vermöge: und zwar in dem Maaße, in welchem der letztere in seiner Wechselbeziehung mit den Thatsachen der Erfahrung entwickelt werde.“ Auch Hegel nennt den Stagiriten als Naturphilosophen einen völligen, zugleich aber auch einen denkenden Empiriker (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, herausgegeben von Michelet, Bd. II. 1833 S. 340). Ueber den langen Kampf zwischen Realismus und Idealismus, die geschichtlichen Phasen der Erfahrungs-Philosophie wie über die Entwicklungsstufen des Empirismus im allgemeinen s. den geistreichen Kuno Fischer in seinem „Franz Baco von Verulam und das Zeitalter der Realphilosophie“ (1856) S. 383–388, vorzüglich S. 468–472.
² (S. 7.) Im strengeren Sinne der Worte und in größerer Verallgemeinerung der Begriffe ist „Weltbeschreibung die Geschichte der Natur und der Menschheit. Die Welt-Erklärung ist die Wissenschaft, welche erkennt, was die Geschichte berichtet.“ (Franz Baco von Verulam, a. a. O. S. 165.)
³ (S. 7.) In den Heraklitischen Naturprocessen bestand das Werden in einem beständigen Umschlagen in das stricte Gegentheil; „des Feuers Tod ist der Luft Geburt“: denn Untergang ist nur die Umwandlung der untergehenden Dinge in das Gegentheil eines jeden. Wie im organischen Körper, so herrscht ein beständiger Umwandlungs-Proceß im Weltall. Leben und Sterben waren dem Epheser identische Naturprocesse, ja das Leben ein Proceß des immerwährenden Sterbens: ein Ausspruch, der mich an den des Dante im Purgatorio (XXXIII, 54) mahnt:
Del viver, ch'è un correre alla morte.
Der physische Lebensproceß des Individuums besteht in dem Uebergange vom Sein zum Nichtsein; in einer Bewegung wie ein Strom, ein Fließen. Auch die Sonne ist immer neu, begriffen im stetigen Proceß des
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Posner Collection: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2013-01-09T11:04:31Z)
Moritz Bodner: Erstellung bzw. Korrektur der griechischen Textpassagen
(2013-04-18T11:04:31Z)
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |