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Humboldt, Alexander von: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung. In: Die Horen. Eine Monatsschrift. Bd. 1. Tübingen, 1795, S. 90-96.

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ben, an Charakter und Styl des Ganzen durfte es sich mit
vielen andern im Poikile nicht messen.

Das Volk staunt an und bewundert, was es nicht
kennt und diese Art des Volks begreift viel unter sich.
Seit einem Jahrhundert war das Bild aufgestellt und ohn-
erachtet Syrakus in seinen engen Mauren mehr Kunst-
genie umfaßte, als das ganze übrige meerumflossene Si-
zilien -- so blieb der Sinn desselben doch immer unent-
räthselt. Man wußte nicht einmal bestimmt, in welchem
Tempel dasselbe ehemals gestanden habe. Denn es ward
von einem gestrandeten Schiffe gerettet, und nur die
Waaren, welche dieses führten, liessen ahnen, daß es
von Rhodus kam.

An dem Vorgrunde des Gemähldes sah man Jüng-
linge und Mädchen in eine dichte Gruppe zusammenge-
drängt. Sie waren ohne Gewand, wohlgebildet, aber
nicht von dem schlanken Wuchse, den man in den Sta-
tuen des Praxiteles und Alkamenes bewundert. Der stär-
kere Gliederbau, welcher Spuren mühevoller Anstrengung
trug, der menschliche Ausdruck ihrer Sehnsucht und ihres
Kummers, alles schien sie des Himmlischen oder Götter-
ähnlichen zu entkleiden, und an ihre irrdische Heimath
zu fesseln. Jhr Haar war mit Laub und Feldblumen
einfach geschmückt. Verlangend streckten sie die Arme
gegen einander aus, aber ihr ernstes trübes Auge war
nach einem Genius gerichtet, der von lichtem Schimmer
umgeben, in ihrer Mitte schwebte. Ein Schmetterling
saß auf seiner Schulter, und in der Rechten hielt er eine
lodernde Fackel empor. Sein Gliederbau war kindlich,
rund, sein Blick himmlisch lebhaft. Gebieterisch sah er


ben, an Charakter und Styl des Ganzen durfte es ſich mit
vielen andern im Poikile nicht meſſen.

Das Volk ſtaunt an und bewundert, was es nicht
kennt und dieſe Art des Volks begreift viel unter ſich.
Seit einem Jahrhundert war das Bild aufgeſtellt und ohn-
erachtet Syrakus in ſeinen engen Mauren mehr Kunſt-
genie umfaßte, als das ganze uͤbrige meerumfloſſene Si-
zilien — ſo blieb der Sinn deſſelben doch immer unent-
raͤthſelt. Man wußte nicht einmal beſtimmt, in welchem
Tempel daſſelbe ehemals geſtanden habe. Denn es ward
von einem geſtrandeten Schiffe gerettet, und nur die
Waaren, welche dieſes fuͤhrten, lieſſen ahnen, daß es
von Rhodus kam.

An dem Vorgrunde des Gemaͤhldes ſah man Juͤng-
linge und Maͤdchen in eine dichte Gruppe zuſammenge-
draͤngt. Sie waren ohne Gewand, wohlgebildet, aber
nicht von dem ſchlanken Wuchſe, den man in den Sta-
tuen des Praxiteles und Alkamenes bewundert. Der ſtaͤr-
kere Gliederbau, welcher Spuren muͤhevoller Anſtrengung
trug, der menſchliche Ausdruck ihrer Sehnſucht und ihres
Kummers, alles ſchien ſie des Himmliſchen oder Goͤtter-
aͤhnlichen zu entkleiden, und an ihre irrdiſche Heimath
zu feſſeln. Jhr Haar war mit Laub und Feldblumen
einfach geſchmuͤckt. Verlangend ſtreckten ſie die Arme
gegen einander aus, aber ihr ernſtes truͤbes Auge war
nach einem Genius gerichtet, der von lichtem Schimmer
umgeben, in ihrer Mitte ſchwebte. Ein Schmetterling
ſaß auf ſeiner Schulter, und in der Rechten hielt er eine
lodernde Fackel empor. Sein Gliederbau war kindlich,
rund, ſein Blick himmliſch lebhaft. Gebieteriſch ſah er

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[91/0004] ben, an Charakter und Styl des Ganzen durfte es ſich mit vielen andern im Poikile nicht meſſen. Das Volk ſtaunt an und bewundert, was es nicht kennt und dieſe Art des Volks begreift viel unter ſich. Seit einem Jahrhundert war das Bild aufgeſtellt und ohn- erachtet Syrakus in ſeinen engen Mauren mehr Kunſt- genie umfaßte, als das ganze uͤbrige meerumfloſſene Si- zilien — ſo blieb der Sinn deſſelben doch immer unent- raͤthſelt. Man wußte nicht einmal beſtimmt, in welchem Tempel daſſelbe ehemals geſtanden habe. Denn es ward von einem geſtrandeten Schiffe gerettet, und nur die Waaren, welche dieſes fuͤhrten, lieſſen ahnen, daß es von Rhodus kam. An dem Vorgrunde des Gemaͤhldes ſah man Juͤng- linge und Maͤdchen in eine dichte Gruppe zuſammenge- draͤngt. Sie waren ohne Gewand, wohlgebildet, aber nicht von dem ſchlanken Wuchſe, den man in den Sta- tuen des Praxiteles und Alkamenes bewundert. Der ſtaͤr- kere Gliederbau, welcher Spuren muͤhevoller Anſtrengung trug, der menſchliche Ausdruck ihrer Sehnſucht und ihres Kummers, alles ſchien ſie des Himmliſchen oder Goͤtter- aͤhnlichen zu entkleiden, und an ihre irrdiſche Heimath zu feſſeln. Jhr Haar war mit Laub und Feldblumen einfach geſchmuͤckt. Verlangend ſtreckten ſie die Arme gegen einander aus, aber ihr ernſtes truͤbes Auge war nach einem Genius gerichtet, der von lichtem Schimmer umgeben, in ihrer Mitte ſchwebte. Ein Schmetterling ſaß auf ſeiner Schulter, und in der Rechten hielt er eine lodernde Fackel empor. Sein Gliederbau war kindlich, rund, ſein Blick himmliſch lebhaft. Gebieteriſch ſah er

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung. In: Die Horen. Eine Monatsschrift. Bd. 1. Tübingen, 1795, S. 90-96, hier S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_lebenskraft_1795/4>, abgerufen am 23.11.2024.