Humboldt, Alexander von: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung. In: Die Horen. Eine Monatsschrift. Bd. 1. Tübingen, 1795, S. 90-96.
Schon suchten die Syrakusischen Alterthumsforscher
Schon ſuchten die Syrakuſiſchen Alterthumsforſcher <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0006" n="93"/><lb/> in Griechenland hatte ſammeln laſſen. Unter den Ge-<lb/> maͤhlden war eines, das man augenblicklich fuͤr ein Ge-<lb/> genſtuͤck zum Rhodiſchen Genius erkannte. Es war von<lb/> gleicher Groͤße, und zeigte ein aͤhnliches Kolorit; nur<lb/> waren die Farben beſſer erhalten. Der Genius ſtand eben-<lb/> falls in der Mitte, aber ohne Schmetterling, mit geſenk-<lb/> tem Haupte, die erloſchene Fackel zur Erde gekehrt, der<lb/> Kreis der Juͤnglinge und Maͤdchen ſtuͤrzte in mannigfa-<lb/> chen Umarmungen, gleichſam uͤber ihm zuſammen. Jhr<lb/> Blick war nicht mehr truͤbe und gehorchend, ſondern kuͤn-<lb/> digte den Zuſtand wilder Entfeſſelung, die Befriedigung<lb/> lang genaͤhrter Sehnſucht an.</p><lb/> <p>Schon ſuchten die Syrakuſiſchen Alterthumsforſcher<lb/> ihre vorige Erklaͤrungen vom Rhodiſchen Genius umzu-<lb/> modeln, damit ſie auch auf dieſes Kunſtwerk paßten, als<lb/> der Tyrann Befehl gab, es in das Haus des Epicharmus<lb/> zu tragen. Dieſer Philoſoph aus der Schule des Pytha-<lb/> goras, wohnte in dem entlegenen Theile von Syrakus,<lb/> den man Tycha nannte. Er beſuchte ſelten den Hof der<lb/> Dionyſe, nicht, als haͤtten nicht geiſtreiche Maͤnner aus<lb/> allen griechiſchen Pflanzſtaͤdten ſich um ſie verſammlet, ſon-<lb/> dern weil ſolche Fuͤrſtennaͤhe auch den geiſtreichſten Maͤn-<lb/> nern von ihrem Geiſte raubt. Er beſchaͤftigte ſich unab-<lb/> laͤßig mit der Natur der Dinge, und ihren Kraͤften, mit<lb/> der Entſtehung von Pflanzen und Thieren, mit den har-<lb/> moniſchen Geſetzen, nach denen Weltkoͤrper im Großen<lb/> und Schneeflocken und Hagelkoͤrner im kleinen ſich kugel-<lb/> foͤrmig ballen. Da er uͤberaus bejahrt war, ſo ließ er<lb/> ſich taͤglich in dem Poikile und von da nach Naſos an den<lb/> Hafen fuͤhren, wo ihm ſein Auge, wie er ſagte, ein Bild<lb/> des Unbegrenzten, Unendlichen gab, nach dem ſein Geiſt<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [93/0006]
in Griechenland hatte ſammeln laſſen. Unter den Ge-
maͤhlden war eines, das man augenblicklich fuͤr ein Ge-
genſtuͤck zum Rhodiſchen Genius erkannte. Es war von
gleicher Groͤße, und zeigte ein aͤhnliches Kolorit; nur
waren die Farben beſſer erhalten. Der Genius ſtand eben-
falls in der Mitte, aber ohne Schmetterling, mit geſenk-
tem Haupte, die erloſchene Fackel zur Erde gekehrt, der
Kreis der Juͤnglinge und Maͤdchen ſtuͤrzte in mannigfa-
chen Umarmungen, gleichſam uͤber ihm zuſammen. Jhr
Blick war nicht mehr truͤbe und gehorchend, ſondern kuͤn-
digte den Zuſtand wilder Entfeſſelung, die Befriedigung
lang genaͤhrter Sehnſucht an.
Schon ſuchten die Syrakuſiſchen Alterthumsforſcher
ihre vorige Erklaͤrungen vom Rhodiſchen Genius umzu-
modeln, damit ſie auch auf dieſes Kunſtwerk paßten, als
der Tyrann Befehl gab, es in das Haus des Epicharmus
zu tragen. Dieſer Philoſoph aus der Schule des Pytha-
goras, wohnte in dem entlegenen Theile von Syrakus,
den man Tycha nannte. Er beſuchte ſelten den Hof der
Dionyſe, nicht, als haͤtten nicht geiſtreiche Maͤnner aus
allen griechiſchen Pflanzſtaͤdten ſich um ſie verſammlet, ſon-
dern weil ſolche Fuͤrſtennaͤhe auch den geiſtreichſten Maͤn-
nern von ihrem Geiſte raubt. Er beſchaͤftigte ſich unab-
laͤßig mit der Natur der Dinge, und ihren Kraͤften, mit
der Entſtehung von Pflanzen und Thieren, mit den har-
moniſchen Geſetzen, nach denen Weltkoͤrper im Großen
und Schneeflocken und Hagelkoͤrner im kleinen ſich kugel-
foͤrmig ballen. Da er uͤberaus bejahrt war, ſo ließ er
ſich taͤglich in dem Poikile und von da nach Naſos an den
Hafen fuͤhren, wo ihm ſein Auge, wie er ſagte, ein Bild
des Unbegrenzten, Unendlichen gab, nach dem ſein Geiſt
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