Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. Tübingen, 1806.

Bild:
<< vorherige Seite

als der Kegelberg von Teneriffa auf den Aetna gethürmt;
höher, als alle Gipfel der Andeskette, schwebte
oft über uns der Cundur, der Riese unter den Geiern.
Raubsucht und Nachstellung der zartwolligen
Vikunnas, welche gemsenartig und heerdenweise in
den beschneiten Grasebenen schwärmen, locken den
mächtigen Vogel in diese Region.

Zeigt nun schon das unbewafnete Auge den ganzen
Luftkreis belebt, so enthüllt noch grössere Wunder
das bewafnete Auge. Räderthiere, Brachionen,
und eine Schaar mikroskopischer Geschöpfe heben die
Winde aus den troknenden Gewässern empor. Unbeweglich
und in Scheintod versenkt, schweben sie vielleicht
Jahrelang in den Lüften, bis der Thau sie zur
Erde zurükführt, die Hülle löst, die ihren durchsichtigen
wirbelnden Körper einschliesst, und (wahrscheinlich
durch den Lebensstoff, den alles Wasser
enthält) den Organen neue Erregbarkeit einhaucht.

Neben den entwickelten Geschöpfen trägt der
Luftkreis auch zahllose Keime künftiger Bildungen,
Insecten-Eier und Eier der Pflanzen, die durch Haar-
und Feder-Kronen zur langen Herbstreise geschikt
sind. Selbst den belebenden Staub, den, bei getrennten
Geschlechtern, die männlichen Blüthen ausstreuen,
tragen Winde und geflügelte Insecten über Meer und
Land den einsamen weiblichen zu. Wohin der Blick
des Naturforschers dringt, ist Leben, oder Keim zum
Leben, verbreitet.

Dient aber auch das bewegliche Luftmeer, in das
wir getaucht sind, und über dessen Oberfläche wir

als der Kegelberg von Teneriffa auf den Aetna gethürmt;
höher, als alle Gipfel der Andeskette, schwebte
oft über uns der Cundur, der Riese unter den Geiern.
Raubsucht und Nachstellung der zartwolligen
Vikunnas, welche gemsenartig und heerdenweise in
den beschneiten Grasebenen schwärmen, locken den
mächtigen Vogel in diese Region.

Zeigt nun schon das unbewafnete Auge den ganzen
Luftkreis belebt, so enthüllt noch gröſsere Wunder
das bewafnete Auge. Räderthiere, Brachionen,
und eine Schaar mikroskopischer Geschöpfe heben die
Winde aus den troknenden Gewässern empor. Unbeweglich
und in Scheintod versenkt, schweben sie vielleicht
Jahrelang in den Lüften, bis der Thau sie zur
Erde zurükführt, die Hülle löst, die ihren durchsichtigen
wirbelnden Körper einschlieſst, und (wahrscheinlich
durch den Lebensstoff, den alles Wasser
enthält) den Organen neue Erregbarkeit einhaucht.

Neben den entwickelten Geschöpfen trägt der
Luftkreis auch zahllose Keime künftiger Bildungen,
Insecten-Eier und Eier der Pflanzen, die durch Haar-
und Feder-Kronen zur langen Herbstreise geschikt
sind. Selbst den belebenden Staub, den, bei getrennten
Geschlechtern, die männlichen Blüthen ausstreuen,
tragen Winde und geflügelte Insecten über Meer und
Land den einsamen weiblichen zu. Wohin der Blick
des Naturforschers dringt, ist Leben, oder Keim zum
Leben, verbreitet.

Dient aber auch das bewegliche Luftmeer, in das
wir getaucht sind, und über dessen Oberfläche wir

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0004" n="4"/>
als der <placeName>Kegelberg</placeName> von <placeName>Teneriffa</placeName> auf den <placeName>Aetna</placeName> gethürmt;<lb/>
höher, als alle Gipfel der <placeName>Andeskette</placeName>, schwebte<lb/>
oft über uns der Cundur, der Riese unter den Geiern.<lb/>
Raubsucht und Nachstellung der zartwolligen<lb/>
Vikunnas, welche gemsenartig und heerdenweise in<lb/>
den beschneiten Grasebenen schwärmen, locken den<lb/>
mächtigen Vogel in diese Region.<lb/></p>
        <p>Zeigt nun schon das unbewafnete Auge den ganzen<lb/>
Luftkreis belebt, so enthüllt noch grö&#x017F;sere Wunder<lb/>
das bewafnete Auge. Räderthiere, Brachionen,<lb/>
und eine Schaar mikroskopischer Geschöpfe heben die<lb/>
Winde aus den troknenden Gewässern empor. Unbeweglich<lb/>
und in Scheintod versenkt, schweben sie vielleicht<lb/>
Jahrelang in den Lüften, bis der Thau sie zur<lb/>
Erde zurükführt, die Hülle löst, die ihren durchsichtigen<lb/>
wirbelnden Körper einschlie&#x017F;st, und (wahrscheinlich<lb/>
durch den Lebensstoff, den alles Wasser<lb/>
enthält) den Organen neue Erregbarkeit einhaucht.<lb/></p>
        <p>Neben den entwickelten Geschöpfen trägt der<lb/>
Luftkreis auch zahllose Keime künftiger Bildungen,<lb/>
Insecten-Eier und Eier der Pflanzen, die durch Haar-<lb/>
und Feder-Kronen zur langen Herbstreise geschikt<lb/>
sind. Selbst den belebenden Staub, den, bei getrennten<lb/>
Geschlechtern, die männlichen Blüthen ausstreuen,<lb/>
tragen Winde und geflügelte Insecten über Meer und<lb/>
Land den einsamen weiblichen zu. Wohin der Blick<lb/>
des Naturforschers dringt, ist Leben, oder Keim zum<lb/>
Leben, verbreitet.<lb/></p>
        <p>Dient aber auch das bewegliche Luftmeer, in das<lb/>
wir getaucht sind, und über dessen Oberfläche wir<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0004] als der Kegelberg von Teneriffa auf den Aetna gethürmt; höher, als alle Gipfel der Andeskette, schwebte oft über uns der Cundur, der Riese unter den Geiern. Raubsucht und Nachstellung der zartwolligen Vikunnas, welche gemsenartig und heerdenweise in den beschneiten Grasebenen schwärmen, locken den mächtigen Vogel in diese Region. Zeigt nun schon das unbewafnete Auge den ganzen Luftkreis belebt, so enthüllt noch gröſsere Wunder das bewafnete Auge. Räderthiere, Brachionen, und eine Schaar mikroskopischer Geschöpfe heben die Winde aus den troknenden Gewässern empor. Unbeweglich und in Scheintod versenkt, schweben sie vielleicht Jahrelang in den Lüften, bis der Thau sie zur Erde zurükführt, die Hülle löst, die ihren durchsichtigen wirbelnden Körper einschlieſst, und (wahrscheinlich durch den Lebensstoff, den alles Wasser enthält) den Organen neue Erregbarkeit einhaucht. Neben den entwickelten Geschöpfen trägt der Luftkreis auch zahllose Keime künftiger Bildungen, Insecten-Eier und Eier der Pflanzen, die durch Haar- und Feder-Kronen zur langen Herbstreise geschikt sind. Selbst den belebenden Staub, den, bei getrennten Geschlechtern, die männlichen Blüthen ausstreuen, tragen Winde und geflügelte Insecten über Meer und Land den einsamen weiblichen zu. Wohin der Blick des Naturforschers dringt, ist Leben, oder Keim zum Leben, verbreitet. Dient aber auch das bewegliche Luftmeer, in das wir getaucht sind, und über dessen Oberfläche wir

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

gutenberg.org: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in HTML. (2012-11-06T13:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus gutenberg.org entsprechen muss.
SUB Göttingen: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-06T13:54:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von HTML nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-06T13:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen.
  • Der Zeilenfall wurde beibehalten, die Silbentrennung aber wurde aufgehoben.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_physiognomik_1806
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_physiognomik_1806/4
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. Tübingen, 1806, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_physiognomik_1806/4>, abgerufen am 21.11.2024.