Humboldt, Alexander von: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. Tübingen, 1806.Nereiden ihre zelligen Wohnungen, bis sie Nereiden ihre zelligen Wohnungen, bis sie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0007" n="7"/> Nereiden ihre zelligen Wohnungen, bis sie<lb/> nach Jahrtausenden über den Wasserspiegel hervorragend,<lb/> absterben, und ein flaches Corallen-Eiland bilden:<lb/> so sind die organischen Kräfte sogleich bereit,<lb/> den todten Fels zu beleben. Was den Saamen so<lb/> plözlich herbeiführt: ob wandernde Vögel, oder Winde,<lb/> oder die Wogen des Meeres; ist bei der groſsen<lb/> Entfernung der Küsten schwer zu entscheiden. Aber<lb/> auf dem nakten Steine, sobald ihn zuerst die Luft<lb/> berührt, bildet sich in den nordischen Ländern ein<lb/> Gewebe sammtartiger Fasern, die dem unbewafneten<lb/> Auge als farbige Flecken erscheinen. Einige sind<lb/> durch hervorragende Linien bald einfach bald doppelt<lb/> begränzt; andere sind in Furchen durchschnitten und<lb/> in Fächer getheilt. Mit zunehmendem Alter verdunkelt<lb/> sich ihre lichte Farbe. Das fernleuchtende<lb/> Gelb wird braun, und das bläuliche Grau der Leprarien<lb/> verwandelt sich nach und nach in ein staubartiges<lb/> Schwarz. Die Gränzen der alternden Decke flieſsen<lb/> in einander, und auf dem dunkeln Grunde bilden sich<lb/> neue zirkelrunde Flechten von blendender Weiſse.<lb/> So lagert sich schichtenweise ein organisches Gewebe<lb/> auf das andere; und wie das sich ansiedelnde Menschengeschlecht<lb/> bestimmte Stufen der sittlichen Kultur<lb/> durchlaufen muſs, so ist die allmählige Verbreitung<lb/> der Pflanzen an bestimmte physische Geseze gebunden.<lb/> Wo jezt hohe Waldbäume ihre Gipfel luftig erheben,<lb/> da überzogen einst zarte Flechten das erdenlose Gestein.<lb/> Laubmoose, Gräser, krautartige Gewächse und<lb/> Sträucher, füllen die Kluft der langen aber ungemessenen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [7/0007]
Nereiden ihre zelligen Wohnungen, bis sie
nach Jahrtausenden über den Wasserspiegel hervorragend,
absterben, und ein flaches Corallen-Eiland bilden:
so sind die organischen Kräfte sogleich bereit,
den todten Fels zu beleben. Was den Saamen so
plözlich herbeiführt: ob wandernde Vögel, oder Winde,
oder die Wogen des Meeres; ist bei der groſsen
Entfernung der Küsten schwer zu entscheiden. Aber
auf dem nakten Steine, sobald ihn zuerst die Luft
berührt, bildet sich in den nordischen Ländern ein
Gewebe sammtartiger Fasern, die dem unbewafneten
Auge als farbige Flecken erscheinen. Einige sind
durch hervorragende Linien bald einfach bald doppelt
begränzt; andere sind in Furchen durchschnitten und
in Fächer getheilt. Mit zunehmendem Alter verdunkelt
sich ihre lichte Farbe. Das fernleuchtende
Gelb wird braun, und das bläuliche Grau der Leprarien
verwandelt sich nach und nach in ein staubartiges
Schwarz. Die Gränzen der alternden Decke flieſsen
in einander, und auf dem dunkeln Grunde bilden sich
neue zirkelrunde Flechten von blendender Weiſse.
So lagert sich schichtenweise ein organisches Gewebe
auf das andere; und wie das sich ansiedelnde Menschengeschlecht
bestimmte Stufen der sittlichen Kultur
durchlaufen muſs, so ist die allmählige Verbreitung
der Pflanzen an bestimmte physische Geseze gebunden.
Wo jezt hohe Waldbäume ihre Gipfel luftig erheben,
da überzogen einst zarte Flechten das erdenlose Gestein.
Laubmoose, Gräser, krautartige Gewächse und
Sträucher, füllen die Kluft der langen aber ungemessenen
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