Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.Sie war als Kind immer gesund, zeigte aber nicht die dem Sie war als Kind immer geſund, zeigte aber nicht die dem <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0161" n="153"/> Sie war als Kind immer geſund, zeigte aber nicht die dem<lb/> fruͤheren Lebensalter natuͤrliche Munterkeit, ſondern hielt ſich<lb/> ſtill und zuruͤckgezogen, ſo daß ſie ſelten zu den froͤhlichen<lb/> Spielen jener gluͤcklichen Zeit aufgelegt war. Vom 6 —15.<lb/> Jahre beſuchte ſie die Toͤchterſchule der Stadt, woſelbſt ſie<lb/> außer den Elementarkenntniſſen noch Unterricht in der Ge¬<lb/> ſchichte und Geographie erhielt, uͤber welche Gegenſtaͤnde ſie<lb/> viele ſchriftliche Aufſaͤtze anfertigen mußte. Da ihre Verſtan¬<lb/> deskraͤfte nur ſehr mittelmaͤßig waren, ſo koſtete ihr dieſe Ar¬<lb/> beit eine große Anſtrengung, welche wie eine große Pein auf<lb/> ihr laſtete, und ihren Sinn ſchuͤchtern und verlegen machte.<lb/> Nach erfolgter Einſegnung nahm ſie an den Wirthſchaftsge¬<lb/> ſchaͤften Theil, oder verrichtete weibliche Arbeiten, und die Ein¬<lb/> foͤrmigkeit ihres ſtillen Fleißes wurde faſt niemals durch ge¬<lb/> ſellige Vergnuͤgungen unterbrochen, zu denen ſie ſchon wegen<lb/> der Paſſivitaͤt ihres Gemuͤths ſo wenig aufgelegt war, daß ſie<lb/> ihrer Verſicherung zufolge niemals tanzte. Da ſie von den<lb/> Aeltern liebevoll behandelt wurde, und ſich auch bei raſch fort¬<lb/> ſchreitender Entwickelung (ſie war ſchon im 15. Jahre voͤllig<lb/> ausgewachſen, und ihre Menſtruation kehrte ſeitdem regel¬<lb/> maͤßig und ohne alle Beſchwerden wieder) immer wohl be¬<lb/> fand; ſo laͤßt dieſe Indolenz allerdings auf eine geringe Be¬<lb/> gabung mit Geiſt und Gemuͤth zuruͤckſchließen. Nun iſt es<lb/> allerdings wahr, daß unzaͤhlige ſolche Individuen ihren Lebens¬<lb/> gang ohne große Stoͤrungen zuruͤcklegen, ja eben wegen ihrer<lb/> Apathie gegen tiefere Erſchuͤtterungen geſchuͤtzt bleiben, von denen<lb/> reicher begabte Naturen ſo oft getroffen werden; aber andrer¬<lb/> ſeits muß eine ſolche Indolenz in ſofern als eine geiſtige Krank¬<lb/> heitsanlage angeſehen werden, weil ſie ſchlimmen Ereigniſſen<lb/> nicht die Widerſtandskraft eines energiſchen Charakters entge¬<lb/> genſetzen kann, zumal wenn Leiden lange auf dem Gemuͤth<lb/> laſten, und daſſelbe gleichſam erdruͤcken. An vielfachen Gele¬<lb/> genheiten dazu ſollte es der H. nicht fehlen, denn auch bei ihr<lb/> machte die Natur ihr Geſetz geltend, nach welchem das Weib<lb/> zur Liebe geſchaffen iſt, auf welche Verzicht zu leiſten, ohne<lb/> den Frieden des Herzens anhaltend zu verlieren, fuͤr daſſelbe<lb/> eine der ſchwerſten Aufgaben iſt. Die unbedeutende Perſoͤn¬<lb/> lichkeit der H. hatte ihr keinen Geliebten erwerben koͤnnen,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [153/0161]
Sie war als Kind immer geſund, zeigte aber nicht die dem
fruͤheren Lebensalter natuͤrliche Munterkeit, ſondern hielt ſich
ſtill und zuruͤckgezogen, ſo daß ſie ſelten zu den froͤhlichen
Spielen jener gluͤcklichen Zeit aufgelegt war. Vom 6 —15.
Jahre beſuchte ſie die Toͤchterſchule der Stadt, woſelbſt ſie
außer den Elementarkenntniſſen noch Unterricht in der Ge¬
ſchichte und Geographie erhielt, uͤber welche Gegenſtaͤnde ſie
viele ſchriftliche Aufſaͤtze anfertigen mußte. Da ihre Verſtan¬
deskraͤfte nur ſehr mittelmaͤßig waren, ſo koſtete ihr dieſe Ar¬
beit eine große Anſtrengung, welche wie eine große Pein auf
ihr laſtete, und ihren Sinn ſchuͤchtern und verlegen machte.
Nach erfolgter Einſegnung nahm ſie an den Wirthſchaftsge¬
ſchaͤften Theil, oder verrichtete weibliche Arbeiten, und die Ein¬
foͤrmigkeit ihres ſtillen Fleißes wurde faſt niemals durch ge¬
ſellige Vergnuͤgungen unterbrochen, zu denen ſie ſchon wegen
der Paſſivitaͤt ihres Gemuͤths ſo wenig aufgelegt war, daß ſie
ihrer Verſicherung zufolge niemals tanzte. Da ſie von den
Aeltern liebevoll behandelt wurde, und ſich auch bei raſch fort¬
ſchreitender Entwickelung (ſie war ſchon im 15. Jahre voͤllig
ausgewachſen, und ihre Menſtruation kehrte ſeitdem regel¬
maͤßig und ohne alle Beſchwerden wieder) immer wohl be¬
fand; ſo laͤßt dieſe Indolenz allerdings auf eine geringe Be¬
gabung mit Geiſt und Gemuͤth zuruͤckſchließen. Nun iſt es
allerdings wahr, daß unzaͤhlige ſolche Individuen ihren Lebens¬
gang ohne große Stoͤrungen zuruͤcklegen, ja eben wegen ihrer
Apathie gegen tiefere Erſchuͤtterungen geſchuͤtzt bleiben, von denen
reicher begabte Naturen ſo oft getroffen werden; aber andrer¬
ſeits muß eine ſolche Indolenz in ſofern als eine geiſtige Krank¬
heitsanlage angeſehen werden, weil ſie ſchlimmen Ereigniſſen
nicht die Widerſtandskraft eines energiſchen Charakters entge¬
genſetzen kann, zumal wenn Leiden lange auf dem Gemuͤth
laſten, und daſſelbe gleichſam erdruͤcken. An vielfachen Gele¬
genheiten dazu ſollte es der H. nicht fehlen, denn auch bei ihr
machte die Natur ihr Geſetz geltend, nach welchem das Weib
zur Liebe geſchaffen iſt, auf welche Verzicht zu leiſten, ohne
den Frieden des Herzens anhaltend zu verlieren, fuͤr daſſelbe
eine der ſchwerſten Aufgaben iſt. Die unbedeutende Perſoͤn¬
lichkeit der H. hatte ihr keinen Geliebten erwerben koͤnnen,
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